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Bericht vom 13.03.2010

GELT!?

Anja Seelke, Malerei

© Jutta de Vries

Einführungstext zur Ausstellung GELT!?
Anja Seelke, Malerei
KSK Stade, 11. März 2010
©Jutta de Vries


Geben Sie es zu, meine sehr geehrten Herren und Damen – so charmant, so kommunikativ, aber auch so dringlich sind Sie noch  nie zu einer Ausstellung geladen worden.
Mit dem Titel nämlich, den die Malerin Anja Seelke Ihnen schon von weitem zuruft, können Sie gar nicht anders als re-agieren. GELT?


Dieses schöne Wörtchen „Gelt“ ist im hiesigen norddeutschen Sprachgebrauch eher unüblich, oberflächlich betrachtet würden wir mit „nä“, „ne“ oder „nich“ übersetzen. 
Im Deutschen etymologischen Wörterbuch findet man als Erklärung: süddeutsch, umgangssprachlich: verschliffene Floskel für die eingeschobene, rhetorische Frage „gelt es?“, „gilt es?“, „habe ich recht?“ oder „nicht wahr?“, „stimmt es?“, um sich der (vorausgesetzten) Zustimmung zu versichern. Die Frage wird nicht oder nur mit der gleichen Floskel beantwortet. Und dann gibt es ja noch mundartliche Veränderungen, etwas zu „gell“ oder „gelle“, oder im österreichischen zu „Goi“. Es liegt also, wenn man über die Ländergrenzen hinweg auch nach Frankreich „n’est-ce pas“ oder GB blickt – ja, wer erinnert sich nicht an die vertrackte Reversibilität des englischen „is it“ oder hasn’t he“ und so weiter..
Wir Menschen scheinen also in der Kommunikation immer auf Bestätigung aus zu sein, unsere Meinungen, Empfindungen, Erwartungen, alle Äußerungen, die wir den Mitmenschen vortragen, sollen möglichst im Konsens landen, und dessen versichern wir uns gern und immer wieder mit dem Füllwörtchen, harmoniebedürftig und selbstbewusst wie wir nun einmal als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sind, gelt?
Oder sind wir vielleicht auch hintersinnig und zynisch, wenn wir jemandem seine eigene Niederlage abverlangen: “Bist a Depp, gelt?“ Da fängt das schöne Bestätigungswörtchen dann so richtig an in den Ohren zu „gellen“.


Und natürlich – was läge näher  an diesem Ort der Ausstellung – ist „Gelt“ in des Wortes erster mittelhochdeutscher Bedeutung und Schreibweise abgeleitet vom Gold, dem Wertmaßstab allen Tauschgeschäfts. Im Jiddischen, DER Sprache des Geldes über lange Traditionen der jüdischen Berufsdomäne Bankierswesen hinaus, ist sogar bis heute das „T“ am Ende geblieben. 
Und wenn Anja Seelke, die Literaturwissenschaftlerin und Sozialpsychologin, die mit Wörtern und Bedeutungen zu spielen weiß wie mit Farben, ein Fragezeichen setzt, öffnet sich der noch immer hautnahe Abgrund globaler Finanzlandschaften in ihrer ethischen Fragwürdigkeit, in ihren dramatischen menschlichen Dimensionen, Gelt?


Und natürlich möchte Anja Seelke Ihnen ihre Werke präsentieren, die hauptsächlich in den vergangenen 2 Jahren entstanden sind, in einer Zeit, in der die Künstlerin, die eher zufällig und ohne Akademie zur Malerei fand, immer mehr Beachtung und Wertschätzung erfuhr. Für die Stadt Stade war sie zum Beispiel als Kunstbotschafterin auf dem Hansetag 2008 in Salzwedel mit Erfolg vertreten.
Nun fragt sie auch hier und heute Abend: Gelt?


In dieser neuen Ausstellung geht es besonders bewegt, rasant und Schwindel erregend zu.
Die Kommunikation, das Beziehungsgeflecht einer Freizeit-Spaßgesellschaft steht im Mittelpunkt, solo sich selbst genügend wie in „Geisha“ oder den verschiedenen Flamenco-Arbeiten, zu zweit im entfesselten Tanz (Meine Kreise, Heber) und im Disco-Fieber (Jungle), als Pseudo-Porträts lachender Zweier- oder Dreiergruppen in einer Nahsicht, wie wir sie von der Boulevard-Presse kennen. Auch Wasserspaß gehört dazu; Wir tauchen auch in die Welt der halbseidenen Damen ein (Puppatanz) oder begeben uns mit der rasenden Motorradbraut auf Tour, die, sich umblickend, uns geradezu zum Geschwindigkeitskick verlockt.
Überall starke, drängende Aufforderung zum selber aktiv werden, zum Lebensgenuß, zum Miteinander in fast immer dröhnender Atmosphäre. Appellativ geht Anja Seelke uns mit Pinsel und Acrylfarbe an, immer fragt sie, fragen ihre Figuren: „gelt?“ 
„Carpe Diem, quam minimun poteras ultera“ sagt uns schon Seneca: Liebt das Leben, wer weiß, wann es zu spät ist. Gelt?!


Anja Seelke interessiert sich ganz besonders für die Spezies „Mensch“, beobachtet alle menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen mit wachem Blick. Da geht es um Körperlichkeit, das Verhältnis von innen und aussen, um seine Erfahrungen, sein Handeln und seine Beziehungsmöglichkeiten, und das alles im Spiegel der Gesellschaft.
„Als Menschen“ sagt die Künstlerin, „ als Menschen haben wir nichts anderes auf Erden als einander, das vergessen wir allzu oft. Und dann ist plötzlich einer weg“.
Und so feiert Anja Seelke in leuchtenden Bildern wieder und wieder das Leben in all seinen Facetten.


Und deshalb fehlt, wie zur Bestätigung, auch nicht das Innehalten, der kurze Moment der Stille mit der Arbeit „Das zweite Gesicht," ein Kopf, der seinen Schatten als Schädel wirft, memento mori und Vanitas-Symbol im klassischen Sinn der kunstgeschichtlichen Tradition vom Mittelalter bis zu Max Beckmann, Francis Bacon oder Horst Janssen (um nur einige zu nennen).
Wer auch hier „gelt?“ fragt, erkennt, dass die Sogwirkung verzweifelter Feierlaune und zwanghaften Betäubung im haltlosen Strudel kommunikativer Überschwemmung durchaus von der Künstlerin kritisch hinterfragt wird.
Obwohl Anja Seelke da gleich abwehrt: „Eigentlich denke ich gar nicht beim Malen, ja, ich vermeide sogar absichtlich jede Form bewußter Vorstellung, die an etwas gebunden sein könnte, weil sich so viele klassische Vorstellungen, die uns ein Leben lang geprägt haben, vor das eigene subjektive Bild stellen, sich so viele Fremd-Eindrücke vor das eigene Erleben stellen. Im besten Fall stellt sich das Bild beim Malvorgang „wie im Schlaf“  ein und wird gefunden.“ Wenn die Intuition aber dann im Kopf des Betrachters zu schlüssigen Ergebnissen und Erlebnissen führt, ist die künstlerische Kommunikationsabsicht in hohem Maße geglückt.


Unterstützend bei der Rezeption der Werke wirkt der erkennbare Bildinhalt, den Gegenstand hat die Künstlerin nicht verlassen, und manche Titel führen noch gezielter auf eine Interpretationsspur, etwa „Eine Betörung“ oder „Erhört!“ 
Das Gegenständliche in ihrer Malerei ist aber weit von dem entfernt, was jetzt in der neu entflammten Realismus-Produktion diskutiert wird. Lockere Malweise, bei der die Umrisslinien in den farbsatten Fleckhaftigkeiten aufgehen, Deformierung der Körper und der Köpfe bis zur Groteske und Typisierung und extremes Einbinden der Betrachter durch expressive Nahsicht – damit und auch mit dem gestischen, deutlich sichtbaren breiten Pinselstrich knüpft die Malweise eher bei den Neuen Wilden an, bei de Kooning und Karel Appel etwa oder in gedanklicher Hochachtung zu Francis Bacon. 
Virtuos schwingt Anja Seelke den Pinsel, die Geschwindigkeit des Duktus ist abzulesen an den gewischten Randzonen, an den modellierenden Formstrichen, den raumgreifenden Richtungsführungen, die, obwohl nur andeutungsweise und sparsam gegeben, die Figur in den Raum setzen und die Episode erfahrbar machen. Das gibt den Bildern ihre Textur, das heimliche Gerüst der Form, das unseren Blick durchs Bild lenkt wie auf einem Spaziergang. Und diese  Form ist bei Anja Seelke untrennbar verbunden mit der Farbe. Sie entwickelt sich aus den Farbflächen, die als erstes auf die Leinwand aufgetragen werden: „Ich suche in den Farben nach Struktur und baue diese dann gezielt aus. Zufälle sind wichtig. Das Auge baut sich sein Bild zusammen.“
So erhält die Farbe einen besonderen Stellenwert in Anja Seelkes Malerei, sie ist Form, Ausdruck, Bewegung im Zusammenklang mit den Nachbarfarben im Bild. Reinbunt werden sie verwendet, auf der Leinwand miteinander auch in der Mischung verwoben, oft gesteigert durch spannungsgeladene benachbarte Tonrückungen von rot zu magenta und rosa etwa, von grün zu türkis, von gelb zu orange. Die Farbeigenschaften von Eigenhelle und Qualität bis zu synästhetischen Wirkungsweisen im Auge des Betrachters befördern den Ausdruck von Bild-Erzählungen und die Einbindung von Figur im Raum mit Leichtigkeit.
Schon die Expressionisten, allen voran August Macke, erkannten in diesen Verwandtschaften ein hohes Ausdruckspotenzial, vor allem das glühend intelligente gelb-orange, das einfach alle Fesseln sprengt. Dass Farbe Interpretation ist, zeigt uns Anja Seelke kompromisslos, schonungslos oft, im Einsatz von scharfen hell/dunkel-Kontrasten, wie mit Scheinwerfern hervorgerufen, die den Gesichtern mit ihren kalkweißen Lichtpartien etwas clowneskes, Unwirkliches und auch Bedrohliches verleihen.
In ihrer neuesten Werkgruppe der Fun-Park-Bilder nimmt Anja Seelke Abstand.
 
Abstand zum Sujet, ein größeres Blickfeld wird uns vergönnt, die Situation nächtlicher Light-Shows und Disco-Abenteuer scheint sich zu objektivieren. Die Palette ist nach wie vor reinbunt mit strahlenden Lichtreflexen die auf nächtlichem Grund irrlichtern, aber  dazu wird der Pinselstrich gezähmt, lasierend, mit weichen, unscharfen Übergängen auch schon mal durch größere Dunkelpartien geführt, an denen sich das Auge ausruhen darf, obwohl im Hintergrund nach wie vor das wilde Disco-Treiben gellt.
Es sieht fast so aus, als ob der Augenschein nun zu Erinnerung mutiert – Bleibt uns Erwartung im besten philosophischen Sinne, denn diese Serie ist schon ein interessanter Ausblick auf zukünftige „Bilder im Kopf“, die sich dann auf Anja Seelkes Leinwänden verselbständigen werden, immer mit der Rückfrage an uns Betrachtende: Das ist meine Welt! Wie siehst Du die Welt? Ist das die Welt? „Gelt?“


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