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Bericht vom 04.10.2007

HEIMAT in uns - um uns - um uns herum

Atelierausstellung Minke Havemann

© Jutta de Vries

HEIMAT in uns - um uns – und um uns herum



Atelier Minke Havemann



Einführung zur Ausstellungseröffnung

Sonntag, 30. September 2007

©Jutta de Vries



Der Landkreis Stade feiert seinen 75. Geburtstag, und - wir haben es soeben dem Grußwort von Landrat Michael Roesberg entnommen, - die begleitende Ausstellung hier im Atelier der Malerin Minke Havemann betont mit bildnerischen Mitteln, wovon unser Landrat träumt: nicht nur „Stärke, Vielfalt, Zukunft“ einer Metropolregion, sondern da geht es um den Menschen, der sich hier zu Hause fühlen darf, der hier verwurzelt ist, der den Landkreis Stade seine Heimat nennt.



Natürlich ist Heimat nicht nur geographisch zu verstehen, sie ist ein schwer fassbarer Begriffs-Cocktail aus Sprache, Abstammung, Geschichte, Religion, Sitten, Bräuchen und kulturellen Leistungen. Schon um dieses Wort „Heimat“ ist es etwas Eigenes – jeder hat irgendwo eine, wir möchten auch gern dazu die Europäische, aber es gibt kaum exakte Übersetzungsmöglichkeiten und Fassbarkeiten. Etymologisch am besten vergleichbar ist das skandinavische Wort hem, das ja auch indogermanischen Ursprungs ist; im Englischen heißt es homeland, native country, französisch pays natal oder lieu d’origine, lateinisch patria – alle haben größere Nähe zum deutschen Wort Vaterland, das soziologisch gesehen mehr ein Begriff für die nationale Identität ist. Im Vergleich zu Heimat gehen dabei wesentliche intime Aspekte verloren, weil hier neben der denotativen Bedeutung „Haus, Ort oder Land, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“ (Dt. Wörterbuch der Gebr. Grimm, 1877) oder, objektivste unter all den vielen Definitionen von Heimat, „die Gesamtheit der Lebensumstände, in denen ein Mensch aufwächst“ (Duden 1992) die konnotative Bedeutung durch den spezifisch emotionalen, erinnerungs- und assoziationsbedingten Gehalt für jeden Menschen individuell verschieden besetzt ist.

So singt Herbert Grönemeyer: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl...“ Und eine Inschrift am Boden der Galerie der Gegenwart in Hamburg verdeutlicht noch: „Heimat ist nicht der Ort, sondern die Gemeinschaft der Gefühle.“



Glücklich, wer diese Definitionen aus vollem Herzen bejahen kann! In unserer ländlichen Region, hier in unserer Ausstellung, in der Nähe der eigenen ererbten Scholle und der überschaubaren Welten, finden wir viel davon zurück.



Hier im Malatelier, in dieser attraktiven Ausstellung auf hohem Kurs-Niveau, die sich speist aus den Arbeiten von drei Erwachsenenkursen und einem Kinderkurs, sind die neun Mal-Kinder ihrem Gefühl von Heimat am allernächsten gekommen. Sie wissen es noch ganz genau und unverrückbar fest, was Heimat ist: das eigene Zimmer, die eigene Straße, das eigene Dorf, das eigene Wohnviertel, Vogelers Paradiesgarten, globale Engel, die auf der Leiter zwischen Himmel und Hölle patrouillieren. Vom Gartenzwerg zum Ufo spannt sich die phantasiegeladene Realität, die mit sicherem Selbstverständnis, mit liebevollem Eifer und großer Erzählfreude hier auf die Malgründe gebracht ist.

Es ist nicht nur ein besonderes Glück, dass Kindern dieser Malunterricht von den Eltern ermöglicht wird - wir wissen ja um die Wechselwirkungen frühkindlicher künstlerischer Übung und geistiger Animation – sondern vor allem, dass für Kinder in unserem Land ein solches Heimatverständnis erfahrbar werden darf. Die erschütternden Zahlen der unicef über Kinder in Krisengebieten und Flüchtlingskinder kennen wir alle.



Auch die erwachsenen Künstlerinnen und Künstler aus dem Malatelier blicken vor allem nah um sich herum. In unterschiedlichen Techniken wie Zeichnung, Druckgrafik, Aquarell, Collage, Materialsammlung, Ölmalerei oder Mischtechnik und auch Fotographie thematisieren sie voller Empathie vom Niedersachsenlogo bis zum Katasterauszug die hiesige schöne Wasser- Marsch- und Geestlandschaft in unterschiedlichen Jahreszeiten, das eigene Haus, den eigenen Gartenblick, die eigene Arbeitswelt mit Landwirtschaft und Nutztieren, und auch die kuschelige Katze am Fenster darf nicht fehlen, die ja geradezu eine Metapher für Geborgenheit ist. Stadtansichten und Industrielandschaften ziehen schon weitere Kreise, und auch der Blick „um uns herum“ in Richtung Dänemark ist dabei. Der Mensch gesellt sich hinzu, Trachtenmädchen, Portraits, Zwei auf einer Bank.

Und ein Raum im Haupthaus ist „verwurzelt“, in unterschiedlichen Techniken machen sich die TN der Malakademie ihre Gedanken über unseren Freund, den Baum, der mit seiner starken Wurzel als Leben spendendes Element eine gut verständliche Allegorie zum Menschen in seiner Heimat darstellt.

Über die „Heimat in uns“ lässt sich offenbar gut abstrahierend nachdenken, zu diesem Teil des Ausstellungstitels gibt es allerdings nur einige wenige Arbeiten: wir entdecken das sehr geometrisch rationale, aber auch das gestisch explosive. Spielfiguren auf einem Brett deuten an, dass unsere Heimat glatt ein Zufallsgenerator sein kann.

Und dann gibt es auch die Frage, ob diese Heimat einengt, ob sie in den Wolken wohl zu finden sei oder doch lieber im alt vertrauten Sessel?

Ein weiter gefasster Heimatbegriff führt in die globalisierte Welt, auch ganz plastisch rund um den Globus als Heimat aller Kunst- und Kulturliebhaber.



Eine besondere Position nehmen die Textcollagen von Anita Reimers ein.

Zunächst ehrt die Malakademie mit der posthumen Ausstellung der Arbeiten die kürzlich verstorbene Kollegin. Darüber hinaus umfassen ihre Slogans die Bandbreite eines umfassenden Heimatbegriffs mit unterschiedlichen, auch kritischen Facetten, angefangen von dem gerade ausführlich beschriebenen „my home is my empire“ über „mal woanders Heimat geschnuppert“ bis zu „Heimat – paradise lost“.



An dieser Stelle möchte ich Ihnen Ernst Bloch vorstellen.



Ernst Bloch, jener Philosoph, den das Nazi-Regime aus seiner Heimat Österreich vertrieb, entwickelt in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ ein „Noch-Nicht“, ein „Konkret Utopisches“ des Heimatbegriffs, der für ihn jenseits aller Orte und Gesellschaften liegt: “...dass allen aus der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ Damit betont er ein uraltes Wunschdenken der Menschheit, das es seit der Vertreibung aus dem Paradies gibt: die legitime, sich der Erreichbarkeit aber stets entziehende Ursehnsucht nach dunkel erinnerter Geborgenheit, Freundlichkeit und Identitätsfindung unter Gleichgesinnten, aus der ein gemeinschaftlicher Mut zu positiven Veränderungen von Welt erwachsen könnte. Dann wäre das Paradies, der Himmel, wieder gefunden. Im übrigen ist das Wort Himmel aus dem mittelhochdeutschen hem, heima, heimat entstanden, eine Ableitung, der wir alle gern zustimmen möchten.



Diese Linie der Sehnsucht und Hoffnung haben Künstlerinnen und Künstler aller Sparten zu allen Zeiten mit herausragenden Werken kommentiert, denn Heimat definiert sich auch – oder vielleicht sogar besonders - über ihr Gegenteil, die Vertreibung und das Exil.



Neben den frühgeschichtlichen alttestamentarischen Überlieferungen finden sich auch in Europa seit der Völkerwanderungszeit der Spätantike, über die Dramatik des 30jährigen Krieges, die Katastrophen der Weltkriege und des Holocaust bis hin zu den heutigen Migrationen aus den lodernden Krisenregionen der Welt viele Prozesse, die, künstlerisch thematisiert, aufgearbeitet werden und Bereitschaft zum Verständnis wecken können. Blochs starkes Prinzip Hoffnung wirkt allerdings in der aktuellen Phase der Globalisierungsprozesse so utopisch wie lange nicht mehr.





Schmerzliche Entwurzelungsprozesse haben auch Minke Havemann und ihre Familie durchmachen müssen.

Die Lyrikerin Uta Regoli, eine Schwester von Minke Havemann, arbeitet mit ihren dichterischen Mitteln in einer Sequenz von Gedichten diese Erfahrungen auf; eine Arbeit möchte ich Ihnen gern vortragen:



mit zeigefinger auf der erdkugel



hier sind wir geboren

es ist nicht unsere heimat

wir sind dorthin umgezogen

und fanden keine heimat

wir mussten flüchten und kamen dorthin

es war keine heimat

wir wurden nach dort abgeschoben

es konnte nicht zur heimat werden

wir wurden zurückgeholt und wohnten dann da

da hätte heimat werden können

aber wir zogen weg nach diesem ort

der neue ort sollte endlich heimat werden

aber da fielen wir auseinander

und jeder ging dem anderen aus dem weg



Bittere Erfahrungen – lange hat es gedauert, bis auch die Malerin Minke Havemann sich daran machen konnte, den Begriff Heimat für sich zu thematisieren. Heimat zu orten ist für die Künstlerin nach eigenem Bekunden sehr schwierig und problematisch. „Geboren in der ehemaligen CSSR, aufgewachsen in den Niederlanden – Studium in München – verheiratet in 1. Ehe mit einem Manager, dessen Arbeit mich und unsere vier Kinder alle 2 Jahre zwang innerhalb Deutschland, Europa und Amerika eine „Neue Heimat“ zu finden.

Den Landkreis Stade wählte ich vor ca. 25 Jahren zu meiner neuen Heimat...“



Seither hat sie sich vielen Motiven in Stade und dem Landkreis zugewandt, ein großes Thema ist auch immer wieder - und wieder ganz neu hier in der Ausstellung - zu sehen: die Landschaft in Hagenah, ihr Mikrokosmos sozusagen. Die täglichen Veränderungen der Natur werden registriert; beim Spaziergang mit dem Hund sieht sie besonders die kleinen Pflanzen am Weges- und Waldrand und bringt sie in der ihr eigenen altmeisterlichen Malweise realitätsnah, aber nicht naturalistisch mit der schillernden Nuancenvielfalt toniger Pigmentmischungen, mit unzähligen Schichten lasierender Übermalungen der selbst angerührten Öl-Eitempera-Mixtur auf dem Malgrund in ein Beziehungsgeflecht. Die spezielle, aufwendige Technik, - die übrigens auch manche der Elevinnen in ihren Kursen fleißig üben, wie die Ausstellung zeigt, - bringt besonders viel Tiefe und bewegliche Farbwirkungen hervor, die das Licht lebendig reflektiert.

„In der Toskana habe ich eine kleine zweite Heimat“ schreibt Minke Havemann, und berichtet auch, dass sie dort angefangen habe, die Dorfbewohner im Alltag zu malen. Eins dieser Bilder sehen Sie im Haupthaus, „Im Gespräch.“ Aus hoher Vogelperspektive gesehen und unbemerkt von den handelnden Personen, scheint sich die Künstlerin selbst ganz auszugrenzen, sie ist eine fremde Beobachterin.



Durch diese Arbeiten in Italien (alle in dortigen Sammlungen) ist Minke Havemann auf die Idee gekommen, die Menschen hier in ihrem Wohnort Hagenah zu malen, Menschen, die sie, wie sie sagt, von Anfang an fasziniert haben. “Sie sind hier geboren, aufgewachsen und haben, soweit ich das in Gesprächen erfahren habe, eigentlich nie das Bedürfnis, ihre Koffer zu packen“



Und so stehen die 13 kleinformatigen Tafeln der „Heimat Hagenah“ im Zentrum dieser Ausstellung. Angeführt von der Darstellung der ratlos abgewandten verlorenen Künstlerin, deren gepackter Koffer im leeren Raum wieder einmal zur Abreise mahnt, erzählen sie episch und liebevoll, wenn auch manchmal noch mit gewisser Distanz, von den Menschen ringsum, von ihrer Arbeit, ihren Hobbys, dem Garten, dem Traktor und der Viehweide. Hier ist die Palette erdgebunden, das typische ziegelrot der hiesigen Häuser kontrastiert mit vielfältig abgetöntem grün, braun und ocker, weiche Lichtreflexe bringen ein sanftes sfumato hervor, das gibt es eben nicht nur im Süden.

Und diesmal geschieht der Dialog auf Augenhöhe, die Malerin gehört plötzlich dazu, wird aufgenommen in die dörfliche Gemeinschaft.

„Durch die Arbeit mit den Nachbarn ist mir das Thema Heimat endlich näher gekommen“ sagt Minke Havemann, vielleicht ist sie auch bereits angekommen...



Und das dürfen wir und alle teilnehmenden großen und kleinen Künstlerinnen und Künstler in dieser Ausstellung gebührend feiern.





Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gemeinschaftsausstellung:



Minke Havemann - Atelierleiterin



Martine Claassen Karin zum Felde

Roswitha Kaiser Roen Scholz

Heide Fingscheidt Dietrich Kaufmann

Marion Jensen Ina Klotzki

Martina Torborg Bärbel Plickert

Jutta Fiest Monika Severing

Ellen Tiedemann Beate von der Decken

Bärbel Schröder Carin Broich

Annemarie Oelmann Sabine Schmidt

Anita Reimers Regine Zink

Monika Bethmann Hanni Burfeindt

Heike Heistermann Ilse Vollmers

Norbert Shira Ana Friedrichs

Ania Harasin Elke Klietsch

Hannelore Doege Hannelore Brenneke

Elke Gütersloh Elfriede Bahr

Uwe Wintjen Christel Wilke

Peter Steinke





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