Bericht vom 11.06.2007
Bremerhaven: Zeitschatten
Ausstellung der Malerien Ingeborg Steinhage im BioNord
© Jutta de Vries
Ingeborg Steinhage
Zeitschatten
Malerei
Biotechnologiezentrum BioNord, Bremerhaven
Einführungstext zur Eröffnung der Ausstellung am 10. Juni 2007
©Jutta de Vries
Meine sehr geehrten Herren und Damen,
"Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bißchen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit." (Michael Ende)
Sie ist uns allen geschenkt, wir dürfen sie nutzen, gestalten, auch vergeuden, um schließlich in ihr aufzugehen – die Zeit, dieses kostbare Gut, bestimmt unser Leben.
Deshalb hat sich die Menschheit seit Anbeginn mit dem Wesen der Zeit auseinandergesetzt, sie gehört zu den ältesten Fragen der Philosophie. Aber auch Psychologie, Soziologie und Ökonomie sowie die Naturwissenschaften, allen voran Physik und Biologie, betreiben grundlegende Zeitforschung.
So befinden wir uns in dieser Ausstellung mit – ich nenne sie verkürzt einmal so - mit „Zeit-Werken“ von Ingeborg Steinhage und geradezu passend in diesem der Naturwissenschaft gewidmeten Gebäude in illustrer Runde, unter anderen mit Aristoteles, Newton, Einstein, Max Planck, Stephen Hawking oder auch Kant, Goethe, mit Musikern wie Stockhausen oder Malern wie Salvadore Dali und dem wie ein Besessener gegen die Zeit an-malenden Pablo Picasso.
Ist Zeit ein Produkt der Existenz von Raum und Bewegung, oder existiert Bewegung nur aufgrund des Vorhandenseins der Zeit? Entsteht Wirkung erst durch Handeln oder ist unser Handeln ein Produkt der Wirkung in der Zeit? Sind Werden und Vergehen Produkte der Zeit oder ist Zeit nur messbar durch Werden und Vergehen? Gibt es eine Zukunft? Gibt es eine Gegenwart? Wenn ja, wie lange dauert sie? Ist sie nicht bereits wieder Vergangenheit, wenn wir sie wahrnehmen? Gibt es nur eine einzige, universell gültige Zeit, oder gibt es mehrere, und vergehen diese immer gleich schnell? Existiert dieses Phänomen überhaupt, das wir "Zeit" nennen, oder spielt es sich nur in unseren Köpfen ab?
„Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es.
Wenn ich es jemandem erklären will, der fragt, weiß ich es nicht.“
Das sagt der Kirchenvater Augustinus im 4. Jh. in seinen Confessiones (Bekenntnissen), XI 14, und dieser berühmte Ausspruch hat für das menschliche Empfinden trotz der bahnbrechenden naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse noch immer etwas von seiner Gültigkeit behalten.
Wir wollen für uns ganz individuell und persönlich gefühlt mehr wissen über unsere Zeit, unsere Vergangenheit, Gegenwart, mehr tun für unsere Zukunft.
In Bezug auf Zukunft ist uns ja allen noch aktuell der G8-Gipfel nah und wieder die bittere Erkenntnis, wie schwer es ist, die unterschiedlichen Wertschätzungen heutiger Regierender bezüglich der Verantwortung für unsere zukünftige Welt auch nur auf den kleinsten Nenner zu bringen.
Die Gegenwart lässt uns häufig paradoxe Situationen erleben, wenn subjektiv wahrgenommene und objektiv messbare Zeit nicht kongruent erlebt werden, sondern unterschiedliche Geschwindigkeiten zu haben scheinen. Wir wollen ja auch dem Zeitgeist entsprechend unsere Gegenwart immer schneller, effektiver, rasanter gestalten, die technischen Erfindungen seit der industriellen Revolution und vor allem des Computer-Zeitalters machen das ja möglich. Aber was der Maler Umberto Boccioni und der Schriftsteller Tommaso Marinetti in den frühen Jahren des 20. Jh. in ihrem Mainfest des Futurismus so begeistert postulierten, dass nämlich „…ein Rennwagen, …ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint,…schöner (ist) als die Nike von Samothrake“, und mit diesem Geschwindigkeitswahn schon ein ganzes Jahrhundert prägten, finden achtsame Menschen von heute endlich doch bedenklich.
Individuelle „Geschwindigkeits-Aussteiger“ gibt es ja doch schon, aber die werden von der globalen Gesellschaft eher belächelt. Aber wenn sich zum Beispiel ein Geschäftsmann, ein Bäcker, entschließt, seinen Produktionsprozess umzustellen, die Herstellung seiner Produkte zu entschleunigen, keine schnell funktionierenden industriellen Backhilfen mehr zu verwenden und wieder die alten Handwerkstraditionen zu Gunsten charakteristischer Geschmacksvielfalt zu reaktivieren, dann spricht das für die neue Qualität von Zeit, die man in der Gegenwart erspürt und nutzt, ganz im Sinne von Horaz’ “Carpe Diem“, statt sie „totzuschlagen“ oder „nicht zu haben“ . Der Bäckermeister, der übrigens inzwischen mit einer großen Gruppe Gleichgesinnter zusammenarbeitet, hat bei seinen Kunden großen Erfolg.
Sein Handeln nach dem Motto „Gut Ding will Weile haben“ erforscht die Vergangenheit, in diesem Fall die Archive mit Rezepten der Vorväter, zum Nutzen der Gegenwart.
Tiefer in die historische Vergangenheit, zu den Wurzeln der Menschheit gelangt die Archäologie. Unzählige menschliche Spuren und Nachlässe sind zu entdecken, die auch ohne geschriebenes Wort über einstiges Leben Auskunft geben – durch Städtebau, Architektur, Gebrauchs- und Kunstgegenstände, durch malerischen Wandschmuck. Vielfältig sind die Präsentationen solcher Ausgrabungsergebnisse, bieten sie uns doch Fenster in die Vergangenheit, die besonders auch Künstlern helfen, in der Gegenwart eine Position zu finden. Die Liste ist lang und zieht sich durch alle Sparten, sui generis natürlich Literatur und Musik, aber auch die Bildende Kunst taucht tief ein in vergangene Epochen, um aus ihnen neue und eigene kreative Ideen zu schöpfen.
Die Malerin Ingeborg Steinhage, von deren neuesten Arbeiten wir heute hier umgeben sind, ist eine von den Künstlerinnen, die das Phänomen der Zeit schon sehr lange beschäftigt. Die Berlinerin fügte ihrem Lehramtsstudium in Bremen und Berlin ein weiteres Diplom-Studium der Freien Bildenden Kunst an der HfBK Braunschweig und der HfK Bremen an und arbeitet seither in Bremerhaven.
Ein Aufenthalt im klar konturierten Licht Italiens gab vor einigen Jahren den Anstoß zu genauen malerischen Beobachtungen und Untersuchungen zum Thema Zeit und Raum, Licht und Schatten
Die Zeit ist als Kontinuum im Raum darstellerisch nur wahrnehmbar durch Licht und Schatten und durch den Prozess von Alterung und Zerfall. Da sich menschliches Erleben immer nur auf Teilbereiche von Zeit im Raum beziehen kann, ist es zwingend das Fragmentarische des Bildgegenstandes, das in Ingeborg Steinhages Arbeiten untersucht wird. Wir haben also in allen gezeigten Arbeiten gegenstandsorientierte, einzeln gut lesbare Motive vor uns, deren geometrische oder florale Inhalte in antithetischen, mehrdeutigen Verortungen vom Betrachtenden neu erkannt und in individuelle Zusammenhänge eingebunden werden müssen, um ihre irritierende Botschaft zu entfalten.
Wir nähern uns am besten von der 3. Ebene aus, für die das kluge Ausstellungskonzept Reihen bereit hält von „Untersuchungen über Möglichkeiten“, wie die Künstlerin die kleinformatigen Papier-Arbeiten erklärt. In zwei Serien werden Dachfragmente von toskanischen Häusern mit Hilfe von Farbtabellen und perspektivischen Blickwinkeln untersucht, wie sie sich im gestaltlosen, mehrdeutigen Raum mit ihren Schattenkanten durch wechselnde, reduzierte Farbklänge zu unterschiedlichen Jahreszeiten verändern und spezielle Kontakte zu Vorlieben der Betrachtenden aufnehmen. In unseren Erfahrungshorizont kommen sofort Parallelen zu Monets Untersuchungen der jahreszeitlich und Wetterkreislauf abhängigen Lichtwirkung auf die Westfassade der Kathedrale von Rouen, und wer schon einmal das Glück hatte, einen Teil der 98 in allen Museen der Welt versprengten Serienteile zusammenhängend zu sehen, weiß um die Faszination künstlerisch-wissenschaftlicher Untersuchungen.
Und der kann man sich auch vor Ingeborg Steinhages Arbeiten nicht entziehen. Vielfältige Strukturen fangen die Kontraste, das Licht und den Schatten ein; entstanden sind die bewegten Oberflächen durch mechanische Verfremdungen, unterschiedlich dichte Farbaufträge oder Abträge, Tupfen, Tropfen, Wischen – den Versuchsreihen sind beinahe keine Grenzen gesetzt.
Die Serie „Vasenfragment“ scheint Ausgrabungen etruskischer oder pompejanischer Wandmalereien entnommen, ebenfalls die „Paravents“, die Verfallszustände von Fresken auf beweglichen Wänden und klappbaren Abschirm-Mechanismen suggerieren. Die Idee ist frappierend, die Technik ist es auch. Was hier geschieht, ist mehr als paradox und führt das lineare Gesetz von Zeit und Kausalität ad absurdum: kann man, wie Stephen Hawking sagt, nämlich niemals sehen, wie eine zuvor zersprungene Tasse sich zu späterer Zeit wieder zusammensetzt, so spiegelt der Herstellungsprozess dieser Fragmente gegengleich den natürlichen Entstehungsprozess des Verfalls. Das Geheimnis des künstlerischen Prozesses bleibt gewahrt, auch wenn sich bei genauem Hinsehen auf der schwarzen Grundierung, dem geschichteten Farbauf- und -abtrag Einschreibungen von Tusch- und Farbstiftgespinsten und Abschleifspuren an den Oberflächen finden.
Eine weitere spannende Serie gibt es auf der 2. Ebene; die völlig abstrakt wirkenden Acryl/Pigmentarbeiten auf handlichen quadratischen Holztafeln haben eine weitere Überraschung für uns bereit: die getrübte, antipodische Farbigkeit der umrisshaften Formen entäußert sich als Schatten, Schatten von Laub und Blattwerk irgendwo ausserhalb des Bildraums, von einer imaginären Lichtquelle auf den Bildgrund geworfen und als Teil des imaginären zeitbestimmten Augenblicks hier festgehalten als reale Darstellung eines unrealen Gegenstands, der ein Schatten ja nun mal ist. Hier sind Bezüge zu Platons berühmtem „Höhlengleichnis“ (aus der „Politeia“) gewollt.
Es geht im Höhlengleichnis darum, die Denkkraft nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare der uns unmittelbar umgebenden Welt zu lenken, sondern auf das, was hinter dieser Welt steht, also deren ideellen Ursprung. Der Weg aus dem „Höhlenschatten“ in das „Sonnenlicht“ ist ein Weg der Irritation, der Verunsicherung, der Infragestellung von Werten – solche Wege kennen wir alle.
Das ist Ingeborg Steinhages künstlerisches Ideen-Archiv, das seine Zeitschatten voraus wirft auf die großformatigen Arbeiten auf der 1. und 2. Ebene der Ausstellung. Die Wiedererkennbarkeit der Motive ist Programm, und auf dieser Erkenntnisbasis sind diese Gemälde leichter lesbar.
Die bekannten Vasenfragmente sind nun eingebunden in drei weitere Module unterschiedlicher Breite; die auswechselbare Anordnungsmöglichkeit der Module weist auf die Beliebigkeit und den Unsicherheitsfaktor der Deutung archäologischer Funde hin. Alle Module sind 150 cm hoch, die Größe vergrößert auch die Struktur der ausgefeilten Technik, die hier mit Acrylat und Pigmenten auf Leinwand ihre faszinierende Wirkung entfaltet. Ins 21. Jh., unsere Zeit der grenzenlos perfekten Reproduzierbarkeit von Welt, weist das Experiment, das Vasenfragment-Modul als Digitaldruck zu präsentieren – hätten Sie es gemerkt?
Nun kommen wir zu den Arbeiten, die ich als die Hauptwerke der Ausstellung ansehe, und die nicht der Sonne als reinster Platonischer Ideenspitze gewidmet sind, sondern ihrer nächtlichen Schwester, dem Mond. Im Zeitschatten der Sonne erstrahlt er durch ihre entfernte Lichtquelle, und wir erliegen den schönen Schatten, den Spiegelungen, dem sinnlich Wahrnehmbaren ganz gegen jede Logik und Vernunft. Wir lassen uns einhüllen von der fahlen kühlen nächtlichen Lichtkraft, der Seenlandschaft aus Tropfen und Schlieren, der steinernen Kraft freskenhafter Dekalkomanie. Die Faltung der Flächen über die Trennung der einzelnen Module hinweg, ihre scharfen Schatten schaffen Rhythmus, und wir lassen uns vollends von unserem Auge und dem Titel „Mondlichtbogen“ betrügen, wenn wir die Bogenlinie gekrümmt wahrnehmen. Auch das „Mondtor“ verwirrt uns – wie faltet sich, bitte sehr, der Mond?
Unsere Erfahrungen und Erkenntnisse werden in dieser hochkarätigen Ausstellung ganz schön zur Disposition gestellt, verwundert müssen wir immer wieder aufs Neue Stellung beziehen.
Also schlage ich in Goethes Sinne vor, es beim Rundgang jetzt mit dem „Geist der Zeiten“ aufzunehmen, denn: “das ist im Grunde unser eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln“.
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