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Bericht vom 07.01.2007

Yellow Kitchen - Gemälde und Sounds - Einführungstext

Der Maler und Musiker Johannes Sylverster Hohenstein im Kunstverein Stade

© Jutta de Vries

Johannes Sylvester Hohenstein

Yellow Kitchen - Gemälde und Sounds

Ausstellung im Kunstverein Stade vom 7.1.07 – 28.1.07

Einführungtext

 

 

Der Nil, meine sehr geehrten Herren und Damen, ist ein faszinierender Fluss. Früher jedenfalls, als der Assuan-Staudamm noch nicht gebaut war, trat er regelmäßig mit der eruptiven Gewalt seiner Wassermassen über die Ufer und befruchtete auf diese Weise das Ackerland. Die Bewohner haben sich diese regelmäßige Bewegung der Natur geschickt zunutze gemacht. Daraus ergab sich Wohlstand und kulturelle Hochblüte, wie wir ja alle wissen; also aus Katastrophe kann tatsächlich auch Beglückung werden.

 

In der Landschaft des Lebens ist der Buchhändler, Stahlarbeiter, Musiker und Maler Johannes Sylvester Hohenstein so etwas wie der Nil. Abgesehen davon, dass er Nil raucht und manche seiner Kompositionen in interessante Ton - Modi stellt, die er scherzhaft „alt-ägyptisch ost“ oder „alt-ägyptisch west“ nennt, ist sein Leben in unablässiger Bewegung gewesen, ständig war der 1951 geborene Künstler bereit, sich und die Lebensumstände, die Orte, die Berufe zu verändern, sich auch wohl den überschäumenden Fluten des Lebensnils zu überlassen (um im Bild zu bleiben). Sie können sich sicher vorstellen, wieviel fruchtbares Sediment aus den unterschiedlichsten, buntesten guten und schlechten Tagen sich im Lauf der Zeit angesammelt hat, etwa in Frankfurt am Main, in Kassel, in Ostfriesland, in Chicago und schließlich auch in Stade. Dieser Lebensfluss bricht sich Bahn durch Musik – Hohenstein ist Gitarrist und komponiert seine Titel selbst; vornehmlich gibt er sich den Blues, und wie ich gehört habe, ist er in Stade regelmäßig im Fiddler’s zu erleben – und durch die Malerei.

 

Beides ist in dieser Ausstellung verknüpft, wenn auch der Schwerpunkt mit 17 großformatigen Arbeiten auf der Malerei liegt. Jedoch hat die 10-minütigeVideo-Sequenz einen wichtigen Stellenwert im ganzen, wohl „komponierten“ Ausstellungs-gefüge. Sie besteht aus 5 Rechner gestützten Clips, die jeweils aus einer bildnerischen Vorlage entwickelt sind. Hohenstein hat die Sounds hinzu komponiert und spielt sie auch selbst per E-Gitarre zu, die oben erwähnten interessanten west-östlich „ägyptischen“ Skalen und Mikrointervalle mit pentatonischen und Dreiviertelton-Anklängen sind auch dabei. Die Sounds tragen und erweitern das Geschehen der raschen Veränderungen, Schnitte, Überlagerungen, Vergrößerungen und Auflösungen – alles ist in ständiger Verwandlung begriffen. Vom geliebten Chicago-Boogie über die barocken Malereien eines Spinett-Innendeckels bis zu Miles Davies in schönstem schwarz-weiss ist hier viel zu entdecken. Also gönnen Sie sich das Vergnügen, 2 Minuten im Schnitt für jeden Track zu erübrigen – trotz unserer schnelllebigen Welt, in der ein Galerie-Besucher laut Statistik durchschnittlich nur 7 Sekunden vor einem Werk verbringt.

 

Die Ausstellung ist übrigens so angelegt, dass die Musik in der Endlosschleife in allen Räumen zu hören ist, sie soll die Gemälde begleiten. Der Künstler stellt hier eine Art Environment zusammen, das sich im Rundgang erschließt. Vom Eingang aus fällt der Besucherblick sogleich diagonal rechts auf das Titel gebende Bild „Yellow Kitchen“ im ersten Raum, in dem Werke versammelt sind, die im weitesten Sinn etwas mit Musik zu tun haben, und in Verbindung mit dem Soundtrack entsteht manchmal das, was Kandinsky „synästhetische Wahrnehmungswirkung“ nannte. Farbe wird zu Klang, Klang zu Fläche, Rhythmus zu Bewegung im Bild. „Yellow Kitchen“ zum Beispiel: Gelb fordert kraftvolle Klänge heraus, und die Anlage als beweglicher Filmstreifen macht im permanenten Rotationsverfahren das Oben und Unten austauschbar. Das mittelalterliche Rad der Fortuna, das uns bei dieser Gelegenheit gleich einfällt, symbolisiert ja auch das Vergehen von Zeit, das diesem ersten Raum durch die versammelten Stilleben, die Sounds und das geliebteste aller Hohenstein-Attribute, das überall eingeschmuggelte Bakelit-Telefon der Fünfziger Jahre die Synergie-Effekte von Rückblick und Vergänglichkeit geben.

 

Aber nicht nur chronos, der Verlauf der Zeit, sondern auch kairos, der als glücklich und richtig empfundene Augenblick der Entscheidung, hat hier seinen Platz. „Kairos“ ist das jüngste der ausgestellten Bilder. Entstanden ist es, nachdem die Entscheidung für diese Ausstellung gefallen war. Dargestellt ist das Lebensschiff, bevölkert von Symbolen für zahlreiche entscheidende Augenblicke, Zäsuren und Krisen im Meer der uns gegebenen Zeit. Schon Platon hat solche Höhepunkte als „wunderbar außerhalb aller Zeit seiend “ beschrieben.

 

Im 2. Raum gibt es Bilder von Stade und Umgebung und Menschenbilder – bewusst sage ich nicht Portraits; Hohenstein spricht von ihnen wie von seinen „Unbekannten“, sie entstehen aus vielen Eindrücken zum Thema Mensch, haben zutiefst individuelle Züge, blicken uns mit wimpernlosen, großen Augen unmittelbar an, als liefe geradezu ein Lebensfilm in Momentaufnahme ab - und dennoch lassen sie sich nicht konkretisieren. Auch das Bekannt-Unbekannte der künstlerischen Selbstporträts sucht Distanz im Mohnblumen-Traum vorm Beckmannschen Goldfischglas. „Ich“ und „Selbst“ werden in den Titeln unterschieden. Hier bedenkt einer den Weg nach innen zu auf das Ich Selbst, in Verbindung mit der Anschauung des Schon Da Gewesenen, der Außenwelt.

 

Das gleiche inhaltliche Phänomen zeigt sich bei genauerem Betrachten der Stade-Bilder. Manches ist signifikant, alles meinen wir zu kennen, und dennoch wird eine genaue Verortung verhindert, ins Virtuelle verschoben: da blühen Riesenblumensträuße entlang der Schwingeufer, da balancieren Bahnschienen hoch in der Luft wie auf dem Drahtseil, Gegenstände werden deformiert und verfremdet, verlieren ihre Lokalfarben; die Bedeutungsperspektive, seit dem Mittelalter verloren, erhält wieder einen Stellenwert und auch die Symbolkraft der Dinge. Viel gibt es da zusehen in den zwar gegenständlichen, aber nicht naturalistischen Arbeiten. Da braucht es schon etwas Zeit, um die offenen oder verschlüsselten Hinweise auf Inhalte und Botschaften zu lesen. Mit dem flüchtigen Blick hat man hier keine Chance. Immer wieder kann man neues entdecken und sich überraschen lassen, zum Beispiel im 4. und letzten Raum. Hier sind Landschaften versammelt, deren Menschenleere und relative Großflächigkeit des Farbauftrags Beruhigung oder eben gerade Beunruhigung aus Stille vermitteln – Landschaft als Spiegel der Seele.

 

Wir haben nun gemeinsam die Räume mit 17 durchaus autobiographischen Stationen durchwandert. Und das eine große Thema hinter allen Titeln erkannt: es ist der unaufhaltsame Fluss des Lebens, das „panta rhei“ der alten Griechen, dessen universaler Puls für den Künstler Hohenstein das Unendliche im Endlichen beinhaltet. Und da wären wir wieder am Nil.

 

Und wie ist diese komplexe Thematik nun bildnerisch umgesetzt? Nur wenige Unterrichtsstunden konnte Hohenstein vor Jahren nehmen, alles andere ist im Selbststudium zur Reife gebracht worden.

 

Wir haben hier großformatigen Mischtechniken auf Acrylbasis mit Akzenten von Gouache, Buntstift oder Pastell vor uns, die teilweise noch mit Kratz-und Ritzzeichnungen betont sind. Hohenstein malt auf Hartfaserplatten, das können auch schon mal Abfallschnitte sein; ebenso die breiten kontrastierend gefassten Rahmen, die alle überraschend, aber einige davon doch ganz echte Hingucker sind: sie stammen nämlich aus einstiger Hanomag-Produktion und werden hier einer authentischen Zweitverwertung zugeführt.

 

Die Begrenzung durch die ja eigentlich über Gebühr betonten Rahmen hebt der Künstler beim Bildaufbau völlig auf – die Gegenstände sind harmonisch und bestimmt in die Fläche gesetzt und mit dem Bildgrund in adäquate Beziehung gebracht, sie werden oft angeschnitten, so dass sie über die Fläche hinausweisen und die Bildidee in die Betrachterebene rücken. Typische Unter- oder Draufsicht einer ganz eigenständigen Perspektiv-Auffassung, die aber den Grundgedanken von Raumtiefe latent bereithält, und dazu die unterschiedlichsten Deformierungen machen die Kompositionen zusätzlich interessant. Episch breit wird die Bild-Information dann noch durch die schemenhaft unwirklichen Botschaften der Ritzzeichnungen, die den Betrachter überfluten; Telefon, Gitterwerk, Sonne, Mond und Sterne sind immer dabei und warten auf den Dialog.

 

Besonders appellativ ist natürlich die knallig gegeneinander gesetzte reinbunte, wenig getrübte Farbigkeit, die fleckhafte Malweise und der beherzte Duktus, die grafisch beweglichen Strichlagen oder die zarten chromatischen Lasuren der Übermalung. Schwarz-Akzente und Konturen verstärken den Eindruck einer kraftvollen eigenständigen Positionierung in der Nachfolge der Expressionisten, hier sind besonders Max Beckmann und geradezu antipodisch, Henri Matisse als Mentoren zu nennen.

 

Der Faszination dieser Ausstellung wird man sich kaum entziehen können. Hier arbeitet ein Künstler frei von Systematik und Dogma, er transformiert das Allgemeine und Objektive der Inhalte von Welt ins Existentielle und Subjektive. Lebendige Anschauung und individuelle Erfahrung geben dem Werk die innere Unabhängigkeit.

 

Hegel formuliert das so: “In diesem Hinausgehen der Kunst über sich selber ist sie ebenso sehr ein Zurückgehen auf den Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in die eigene Brust...Hiermit erhält der Künstler seinen Inhalt an ihm selber...“

 

 

 

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