Bericht vom 01.10.2006
Niedersächsische Musiktage 2006 in Stade:
Beim diesjährigen Motto dreht sich alles um die Liebe
© Jutta de Vries
Über das wichtigste und größte Gefühl der Menschheit ist geschrieben worden, solange es die Schrift gibt - Worte, Noten, unübersehbar, und in so vielen Facetten, wie es Menschen gibt, eine unerschöpfliche Quelle der Kreativität. Das reicht von der billigen Schnulze bis zum völlig überraschenden Meisterwerk, und genau das brach über Stade herein, völlig überraschend eben, wie die wahre Liebe es ja oftmals ist.
Aus dem großen Liebes-Angebot hatte die Sparkasse Stade-Altes Land als Mitveranstalter vor Ort im Verein mit dem Kulturkreis die sympathische und aus neudeutschen Filmen mit Tiefgang bekannte Schauspielerin Martina Gedeck ausgewählt. Musikalisch getragen vom Duo Stephan Imorde, Klavier und Ulf Schneider, Violine, ebenfalls in Musikkreisen renommiert und hochgelobt, las sie die Novelle "Das Lied von der triumphierenden Liebe" von Iwan Turgenjew vor. Der russische Autor, der im 19. Jahrhundert zwischen Romantik und Realismus steht, verarbeitet sein persönliches geradezu unglaublich unrealistisches Liebesleben hier auf einer noch phantastischeren, fiktiven Ebene.
Und Martina Gedeck liest. Sie tut dies mit Objektivität und ganz ohne Süffisanz, die das Geschehen nicht abgleiten läßt, mit stimmlichem Nuancenreichtum, mit spannungsvollen Pausen, Und sie hat dabei diese feine Körnung im Timbre, die dem Text, den Turgeniew im Italien der Renaissance ansiedelt und auch zumindest am Anfang im Sprach-Stil mittelalterlicher Ritterromane hält, die nötige Erdung verspricht.
Musik und Text bilden eine komplette Einheit, wie sie selten erreicht wird. Das liegt an der realen Hauptperson, der geliebten Pauline Viardot-Garcia. Sie stammt aus der renommierten Musikerfamilie Garcia, die in ganz Europa musikalische Kaderschmieden unterhält, und Pauline ist das Aushängeschild. Sie ist die berühmteste Sängerin der Zeit, wird auch als Pianistin und Komponistin gefeiert. Clara Schumann ist begeistert.
Niemand weiß, wie weit die Dreierbeziehung Pauline - Ehemann Viardot - Anbeter Turgeniev letztendlich führt, und das ist das pikante an der Sache, die auch in Stade in der literarisch-musikalischen Überhöhung für atemlose Stille im abgedunkelten Königsmarksaal sorgt. Als musikalische Klammer steht am Anfang die Violin-Sonate A-Dur op 13 von Gabriel Fauré, die von der unerfüllten Liebe zu Pauline Viardots Tochter schluchzt, am Ende steht Ernest Chausson, dessen Poème op. 25, inspiriert durch die Turgeniev-Novelle, das Publikum die Dramatik des soeben Gehörten noch einmal als musikalisches Programm durchleben läßt. Und zwischen den Kapitels stehen die einzelnen Stücke der "Six Morceaux pour Violon et Piano" von Pauline Viardot-Garcia und eine Romanze ihres Sohnes, des Geigers Paul Viardot. Alle Stücke sind wie für den Text gemacht, durch ihre Qualität und die Intensität der Interpretation der beiden hervorragenden Musiker erhalten sie soviel Gewicht, dass der relativ hohe Sprach-Anteil durchaus relativiert wird. Durch die biografischen Verweise und Verknüpfungen entsteht eine dichte Verwobenheit zwischen Text und Ton - da haben die drei eine moderne Verion des Melodrams erfunden.
Selten gab es einen so spannungsgeladenen und innovativen Abend in Stade - und selten war der Saal so bis auf den letzten Platz gefüllt bei einem Programm, dessen Inhalte es erst neu zu entdecken galt. Die phantasiereichen Wege der Liebe machen eben alles möglich.
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