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Bericht vom 04.08.2021

Katalogtext Birgit Lindemann, Bildhauerin: Menschen

Terracotta, Werkschau von 2012/13 bis 2021

© Jutta de Vries





Katalogtext Birgit Lindemann, Bildhauerin
Menschen
Terracotta, Werkschau von 2012/13 bis 2021
Jutta de Vries




ERDE: das Urmaterial aller bildnerischen Schöpfungskraft!
Die farbigen, trockenen Lagen hatten schon die Steinzeitleute im Paläolithikum zu Pulver zerrieben und mit dem Finger als Spurgeber Linien oder Flächen an Höhlenwänden ausprobiert und figural zur Meisterschaft gebracht. Damit konnten sie für sich die Entdeckung der Welt, der Gottheiten und des eigenen Ichs dokumentieren. 


Mit dem feuchten, schweren Lehm, der zudem im Feuer haltbar wurde – welche Zufalls-Erkenntnis! – ließen sich Gebrauchsgegenstände formen, die mehr und mehr durch Verzierungen des Materials den Willen zur Schönheit zeigten. Besonders eindrucksvoll sind aber die sakralen vollplastischen Figuren, vorwiegend Mutter- und Fruchtbarkeitsidole, die aus vielfältigen Materialien und auch aus Lößlehm geformt wurden, wie der vollplastische Körper der „Venus von Dolní Vêstonice“, die der Zeit des Gravettien, des Jungpaläolithikum, zugeschrieben und also ca. 25.000 Jahre alt sein wird. 


Das Formen von sakralen Idolen, Bannfiguren oder Stellvertreterobjekten aus Tonerde ist in der Vorgeschichte weit verbreitet; die Arbeit mit der formbaren Masse als Verwendung für alle möglichen profanen Gegenstände des täglichen Bedarfs - angefangen vom Dokument, der Lagerliste oder Warenrechnung, über den Schriftverkehr und die Gefäßkultur bis zur Darstellung des Tier- und Menschenkörpers - gehört in den Hochkultur-Territorien des Vorderen Orient zum Alltag. Von dort gelangt das Know-How über Kreta nach Ägypten und schließlich ins antike Griechenland und Rom. Natürlich hat der Mensch den praktischen Werkstoff überall auf der Welt, wo er ansteht, bearbeitet. Auch die chinesische Kultur der Quinzeit mit der grandiosen Terracotta-Armee darf nicht vergessen werden. 


Nach unbedeutenden Perioden in den Völkerwanderungszeiten ist Keramik seit dem europäischen Mittelalter bis heute in der Kunst und im Alltag eine feste Größe. Die aufbereitete Tonmasse lässt schon Kinder mit großem Vergnügen erste haptische und plastisch-bildnerische Erfahrungen mit dem Werkstoff machen. Eine essentielle Erfahrung, wie es scheint. So beschreibt es der kretische Dichter Nikos Kazantzakis, der selbst eine Zeit lang im Töpferdorf gelebt hat: „Weißt du, was es bedeutet, ein Stück Erde in der Hand zu halten? Es bedeutet frei zu sein, Mensch zu sein.“


Die Prähistorie spricht schriftlos durch ihre archäologischen Artefakte; es gibt nur einen allgemein bekannten Text: in der Genesis, dem 1. Buch des Alten Testaments der Hebräer, wird berichtet, wie Gott einen Klumpen Lehm nimmt und den Menschen nach seinem Bilde formt, Mann und Frau. Danach haucht er ihnen den „ruoch“, den Hauch des Geistes ein und hebt sie zu sich. Michelangelo hat sich das in seinem großen Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle in Rom als die leichte Berührung der Fingerspitzen vorgestellt, bei der Betrachtung scheint es zu knistern, so als ob Mengen elektrisierender Energie frei würden.


Es scheint, dass die Bildhauerin Birgit Lindemann mit einem solchen schöpferischen Energieschub arbeitet. Im
Studium der Bildhauerei bei Jan Koblasa an der Kieler Muthesius-Kunsthochschule ist sie von Anfang an fasziniert von dem so wandelbaren Material, mit dem das Naturstudium absolviert wird; da geht es vor allem um das Porträt, das klassische Thema der Bildhauerei. Denn mit der Erfassung des Wesentlichen eines Modells erkundet man ja immer auch einen Teil des Ich, „Sagen, was ist“. Neben dem plastischen Modellieren arbeitet sie skulptural mit Stein, untersucht intensiv das kontrastierende Zusammenspiel von Licht und Schatten, Körper und Raum, und wie sich Ruhe oder Bewegung der Körper im Raum potenzieren, wie die Skulptur den Raum gestaltet, der Raum aber auch Einfluss nimmt auf die Skulptur. Das intensive Forschen über die Diplomarbeit hinaus führt folgerichtig zu einer langen Werkreihe digital gesteuerter, teils abstrakter fraktaler Spiegel-Lichtobjekte und Video-Tags.


Philosophische, psychologische und mystische Anregungen erhält die Künstlerin von Platon mit seinem Höhlengleichnis, CG Jung liefert die psychosozialen Aspekte der Selbstfindung durch archetypische Verschmelzung der Ideale, bis hin zum inneren Gleichgewicht des Männlich-Weiblichen. Und der geheimnisvolle mittelalterliche Alchimist Nicolas Flamel, der CG Jung tief beeindruckt hatte, steuert mystische Legenden bei vom Prozess der ständigen Verfeinerung der Materie auf dem Weg zur Ganzwerdung, und von der Vereinigung der Gegensätze des Universums für die Schaffung einer harmonischen Welt.
Diesen Ausgangspunkt, die Verbindung unterschiedlicher Denkansätze, fasst die Künstlerin in einem kleinplastischen Terracotta-Environment mit den drei Protagonisten zusammen; sie thronen „ex cathedra“ auf ihren Textsockeln nebeneinander in ihren typischen Gesten, scheinbar ohne den anderen wahr zu nehmen und doch mit unsichtbaren Gedanken-Fäden verbunden. 


Finden sich hier die Schlüssel zum Werk der Künstlerin?


In Birgit Lindemanns Atelier entstehen als neue Werkphase seit einigen Jahren die menschlichen Terracotta-Figuren, eine vielfältige Gesellschaft. Porträt, Büste, Halbfigur, Ganzfigur stehend oder in speziellen Körperhaltungen, Gruppen im Kontext, unterschiedlich groß bis fast zum Realmaß. Alle sind farbig gefasst, nicht als Glasur aufgebrannt, sondern bemalt mit natürlichen Pigmenten, die mit Knochenleim und Alaun gebunden sind. Es entsteht eine zurückhaltende Farbigkeit, die fast transparent erscheint, die Formgebung unterstützt und den Realitätscharakter der Figuren steigert. 


Die Künstlerin arbeitet vorzugsweise mit Modell, häufig auch nach oder mit Hilfe von Fotos oder aus der Erinnerung an zufällige Begegnungen der außergewöhnlichen Art. 
Männer, Frauen, Kinder sind da, die Porträts geben sich hoch offiziell, die Handelnden erzählen manchmal Geschichten, vor allem die Kinder in frechen Posen - hier ist spitzbübisch heimlicher Humor zu ahnen. Besonders die Großformate sind faszinierend: formal eine Herausforderung, weil das Volumen des Brennofens und die statischen Möglichkeiten den Umfang begrenzen. 


Eigentlich sind sie „nur so da“, wie selbstverständlich aus dem Alltag herausgehoben auf ihren Sockeln, stille Momentaufnahmen ihres „So Seins“. Im Moment der realen Begegnung ist das virtuelle Handeln wie im Filmstill für den Augenblick gestoppt, gerade für   d e n   Augenblick, den die Betrachtenden in merkwürdiger Distanz und gleichzeitiger Nähe mit den Figuren teilen. Authentisch und individuell sind sie in Habitus und Ausdruck, indem sie unterschiedliche Wesenszüge und psychische Eigenheiten offenbaren; aber gleichzeitig sind sie Archetypen der Menschheit und demonstrieren die psychosozialen Aspekte der Gattung. Das machen die analogen Merkmale innerhalb der unverwechselbaren, perfekten Künstlerhandschrift deutlich; sei es die anatomische Präsenz, die sanft geglättete, seidige Materialität von Haut und Haar oder die subtile, manchmal texturale Stofflichkeit der unterschiedlichen Kleidungs- und Versatz-Stücke, das gebrochene Kolorit. Jede Falte sitzt an der logischen Stelle, jede Jeans-Beulung, jeder feine Kragen, und die teuren Schuhe erst…


So täuschend echt alles aussieht, so schön trügt der Schein. Nichts ist wirklich wahr oder wahre Wirklichkeit.
Über das mimetische Abbilden hinaus subsummieren sich in den Werken die Erfahrungen und Erkenntnisse und Wunschbilder vom Menschsein, die wieder zurück auf die Exponate projiziert werden und ihre Individualität unter der Oberfläche sichtbar machen. 


Das Werk könnte dem Neuen Realismus zugeordnet werden, wir lieben ja die Schubladen… Der „Realismus“ bei Lindemann ist jedoch sachlicher, aber auch nicht zu vergleichen mit der Stilepoche der Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre des 20. Jahrhundert, denn Deformation und Exaltation sind ihm fremd. Es lebt vielmehr aus dem Geist der Philanthrophie. 


Ähnlich dem hyperrealistischen Werk der US-Amerikaner Duane Hanson oder George Segal „leben“ Birgit Lindemanns Figuren durch völlig abwesende Kommunikation. Auch direkter Blickkontakt wird vermieden.  Jede Figur ist wie eine Insel, unverzerrt, durchaus würdevoll im Menschsein, oft in sich ruhend und leicht unterkühlt. So sieht die Künstlerin die Population der Welt, deren beispielhaften Querschnitt sie uns präsentiert. 


Der Kunst sagt man ja ein seismographisches Feeling für die Veränderungen der Zeitläufe nach, und unsere Zeiten haben sich gerade in den vergangenen Jahren und auch mit der Pandemie drastisch verändert. Die Zeichen stetig wachsender Individualisierung bei gleichzeitigem Konformismus, steigender Vereinzelung und Vereinsamung nehmen zu. 
Auch die Stille ist Signal, das sagt uns seit langem der viel strapazierte Philosoph Paul Watzlawick (+2007): „Man kann nicht „nicht“ kommunizieren“.
Birgit Lindemann nimmt ihr Material, das Ur-Material, das sich der geistigen Vorstellung und der haptischen Arbeit der Hände unterwirft, und ordnet ihm ein Wesen zu. Mit ihrer Terracotta-Gesellschaft schafft sie eine innerliche Kunst der „Neuen Wirklichkeit“.


Und außerdem: die so authentischen Kinder bei Birgit Lindemann brechen aus dem Kreislauf aus. Sie sind laut, sie fordern Aufmerksamkeit, erwarten Empathie und Liebe. Sie sind die Hoffnung, die Ernst Bloch zum idealen Prinzip erhob, für ein achtsameres Leben in unserer Welt.






Ca. 8.000 mit Leerzeichen


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