Bericht vom 31.10.2018
100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland
Einführung in die Mail-Art-Ausstellung 30. Oktober 2018, GEDOK Galerie Hamburg
© Jutta de Vries
100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland
Einführung in die Mail-Art-Ausstellung
30. Oktober 2018, GEDOK Galerie Hamburg
Jutta de Vries
Sehr geehrte Frau Senatorin Dr. Stapelfeldt, liebe Sabine Rheinhold, liebe Mail-Art-Künstler und Künstlerinnen, liebe GEDOK-Kolleginnen, sehr geehrte Herren und Damen!
Wir feiern heute mit dieser Ausstellung 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, und unser künstlerischer Dank an die Frauen der ersten Stunde ist vielfältig, bunt, lebendig, witzig, erotisch, minimal, fordernd, surreal, heiter, ernsthaft, verrückt, verspielt, albern, plakativ, klug, liebevoll, nachdenklich, fragend, irrwitzig, seicht oder inhaltsschwer und, nicht zu vergessen, gender. Kurz: ein weites Spektrum an künstlerischen Kommentaren aus Europa ist zusammengekommen, auch aus unseren eigenen Reihen. Und – mit der Leihgabe des Projekts von Barbara Ihme aus Gengenbach auf der einen Wand dort – gibt es Stimmen aus der ganzen Welt.
So eine Resonanz ist natürlich nur möglich durch ein heutiges Medium, die MailArt.
MailArt – was ist das? Eine Kunstform, undogmatisch, spontan und aktuell auf das Zeitgeschehen reagierend, Künstler/Innen treten durch Kunstsendungen, vorzugsweise künstlerisch gestaltete Postkarten, per Post oder elektronisch in Kontakt, im besten Fall in einen Gedankenaustausch.
Die Idee ist natürlich nicht neu, Anfang des 20. Jh. gab es einen regelrechten Boom an Künstlerpostkarten, die hin und her gingen zwischen Künstlern des Bauhauses, der Brücke, des Blauen Reiter und vielen anderen Künstler/Innen mit neuesten Skizzen, Gedanken, Erinnerungen. Gemeint war eine offene, freundschaftliche Teilhabe an künstlerischen Prozessen, oft ein Anstoß zum Kommentar.
Es gab dann noch die Postkarten-Laienkunst der Weltkriege, ein ganz besonderes, fast unerforschtes Kapitel, in dem sich Kriegsjubel findet, aber ansatzweise auch verschlüsselte Systemkritik abzeichnet.
Aus den kleinen Anfängen der frühen Netzwerker entwickelte sich nach den großen Kriegen in den 60er Jahren von USA aus die „MailArt“ und kam schnell wieder zurück nach Europa. Damals, im Kalten Krieg, war sie ein beliebtes Mittel zur Bildung subversiver Underground-Systeme, deren gesellschaftskritische, künstlerisch- symbolhaft verschlüsselte Äußerungen von der Zensur oft übersehen wurden. Künstler und Aktivisten konnten sich dort freier äußern, Netzwerke mit Gleichgesinnten bilden und miteinander über alle Themen, wie z.B. politische Verhältnisse, Umweltfragen, menschliche Grundrechte oder Positionen aktueller Kunst kommunizieren. In diesem Freiraum gilt die Öffnung für alle, die für eine Position stehen, die begründ- oder hinterfragbar ist, es gilt Ehrlichkeit und Respekt vor anders Denkenden, wir haben es hier zu tun mit einem demokratischen Mittel der Kontaktaufnahme und des Netzwerkens mit Kollegen, im weitesten Sinn: mit Menschen, überall auf der Welt.
Und deshalb passt die MailArt-Kunstform besonders gut zu unserem Thema – vor 100 Jahren war das Frauenwahlrecht ein beachtlicher Sieg der Demokratie.
Wir feiern unser Wahlrecht mit über 400 MailArt-Beiträgen, soviel die Wände der Galerie hergeben; und das tun wir besonders auch, weil wir den Wegbereiterinnen der politischen Freiheit und unserer GEDOK-Gründerin Ida Dehmel in Dankbarkeit verbunden sind und ein nachdrückliches Zeichen setzen wollen – trotz Wahlrecht und Art.§5 des Grundgesetzes ist auch heute die Gleichstellung von Frauen in Kunst und Kultur immer noch eine schöne Utopie.
Die Idee für unser Projekt hatte Claudia Rüdiger. Sie hat das großartige Ergebnis mit ihrer Arbeitsgruppe hier beeindruckend in Szene gesetzt.
Es umfängt uns ein umlaufendes großes Wand-Mosaik, von weitem wirkt es wie eine kostbare Einheit in der Vielfalt. Die bewegte Farb- und Formsinfonie löst sich aber bei näherem Hinsehen in Themenfelder, Motive, Einzeltöne auf:
Die Glückwünsche, traditionelles Thema für die Postkarte, sind gar nicht in so großer Zahl eingegangen. Darja Shatalova schickt einen Hundertwasser-Gruß aus Wien, der frühen GEDOK-Dependance; Christiane Sieberts Karte hat etliche Verletzungen erfahren. Fragen stellt auch Julia Hühne-Simon. Lust und Frust scheinen sich die Waage zu halten.
Hilft da die Erinnerungskultur? Hier sind informative Arbeiten zum Wahlrecht stark vertreten, Porträts der Frauenrechtlerinnen, Hedwig Dohm, Marie Juchacz, Elisabeth Selbert und Louise Otto-Peters werden künstlerisch verarbeitet, Ida Dehmel ist dabei, die junge Anne Frank; alte Gruppen- und Protestszenen sollen aufrütteln.
Textkunst gehört dazu, gibt sie doch häufig Zitate der Vorkämpferinnen wieder: „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht“ (Rosa Luxemburg), „Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht“ (Louise Otto-Peters). „Es wurde auch langsam Zeit“ (Andreas Bausch) „Wir schaffen das“!(Heima Hasters nach Angela Merkel) „Gleicher Ruhm für gleiche Arbeit“ (Claudia Hoffmann) „Es ist noch was zu tun“(Christa Mayr-Brandl). Was, das stellt sich Sybille Hoffmann mit ihren weltweiten Forderungen vor. Und es gibt noch viele weitere spannende Texte zu entdecken, auch gedankenstarke Gedichte der Literatinnen.
Die Wahl ist ein Thema; mit Worten und mit Zeichen, vor allem mit Wahlkreuzen. Mal bedecken sie in strenger Reihung die gesamte Fläche (Fränzi Höhne, Julia Höhne-Simon), mal sitzen sie im Frauenauge (Halina Bober), mal tanzen sie über das ganze Blatt und die Frau. Vom „Wahlglücklich“- sein erzählt uns Annemarie Schleifenheimer in ihrer Collage. Manchmal aber sieht das Kreuz auch wie ein Durchstrich aus.
Die kluge Schönheit der Frau wird gefeiert, das ist wunderbar (Claudia Rüdiger). Viele Darstellungen betonen, wie Schönheit zu verstehen sei – es handelt sich dabei nicht um Alter oder Modelmaße; die starken Frauen sind es, die mit klarem Blick den Alltag gestalten, (Hanne Horn) oder die Sache der Frau vorantreiben ( Monika Reinboth, Jaremie Otternbach, Christa Quilitsch, Monika Kropshofer) oder frei lachen können (Viorel Chirea). In Zwängen gefangen, zeigt Frau eine empörte (Dr. Kathrin Günther) oder morbide, zweifelnde Schönheit (Karin Lieschke); die Schönheit der Schöpfung spricht aus allen Werken. Auch aus der Serie Women(Oberon), die gewaltig mit Warhols Hilfe in die „me Too“-Debatte eingreift.
Verschließen sich die teilnehmenden männlichen Künstler der Schönheit ? Nie! Allerdings zweifle ich bei so manchem Beitrag am erkenntnisleitenden Interesse. Da wird trotz ernsthafter Textinfo die Frau als Madonna ins Bild gesetzt (Werner H. Schütz); Bernd Miesing fokussiert den Baby-Bauch und setzt „Würde+Freiheit+Autonomie = Wahlrecht“ unter die Rückansicht eines weiblichen Aktes; es gibt auch ein Wärmebild vom Rückenakt (Heiko Wommeldorf). Norbert Böckmann bemüht Barbie und schenkt uns ein zugegeben sehr witziges Gedicht; Andreas Horn verehrt uns Schamhaar. Mit einer sehr aesthetischen und gewitzten Zeichnung macht uns Federico Schlaffino (ein Pseudonym?) deutlich, wie schwer uns das andere Geschlecht im Uterus liegt; und die kantige Bürde stellt die Wahlkreuze in Frage.
Sind diese Beispiele eventuell Indizien dafür, daß die Gleichstellung der Frau in manchen Köpfen noch nicht Realität ist?
Im Jahr 1953, da waren die Mütter des Grundgesetzes ja längst tätig geworden, schreibt der Psychiater und Jung-Schüler Erich Neumann in seiner „Psychologie des Weiblichen“ immer noch: “:...Das Fehlen eines sichtbaren schöpferischen Werks beruht darauf, dass die Frau in ihrer Eigenschaft als Gebärerin unmittelbar schöpferisch wirkt und damit ihre kreativen Energien bereits im Leben verbraucht“.
Fragwürdige Ausnahme bei den weiblichen Einsendungen ist der „Pink First“ Appell von Helga Weidenmüller, die offensichtlich an ihren Geschlechtsgenossinnen zweifelt, wenn sie rechts unten ganz klein schreibt: „Check’se das?“
Hat unser geliebter Psychologe Paul Möbius doch recht, wenn er 1900 in seinem Bestseller „Über den psychologischen Schwachsinn des Weibes“ behauptet:
„Der Mangel an Vermögen, zu kombinieren, d.h. in der Kunst der Mangel an Phantasie, macht die weibliche Kunstübung im Großen und Ganzen wertlos“. Er erntet viel Zustimmung in 8 Auflagen, aber auch einige Proteste, einen davon hat Hedwig Dohm verfaßt. Möbius wird auch in unserer Ausstellung ad absurdum geführt.
Unsere Kollegen und Kolleginnen beweisen bildnerisches und innovatives Format, ihr Witz und Einfallsreichtum, ihre Transferleistungen durch die Kunststile der Epochen hindurch , von der mittelalterlichen Feinmalerei bis zum abstrakten Farbfeld, sind auf der Höhe der Zeit.
Spannend ist das Kaleidoskop der kleinen Kunstwerke aber nicht nur inhaltlich und stilistisch, sondern auch wegen des breiten Spektrums der künstlerischen Techniken. Ein Kosmos erwartet uns: von der gegenständlichen zur freien Zeichnung, von Monotypie über Holzschnitt und Lösungsmitteldruck bis zum Fotodruck und zur Plakatkunst; auch die Karrikatur läßt uns heiter schmunzeln (Katrin Schober, Ute Plank). Collagen gibt es in großer Zahl, von Papier über Materialcollage bis zur Fotocollage und Décalcomanie,; textile Arbeiten und Schmuckformen sind wichtige Werke für die GEDOK, es gibt Fotos von Objekt, Plastik, Skulptur und Installation; der Malerei sind praktisch keine Grenzen gesetzt mit Aquarell, Öl, Acryl, und allen erdenklichen, kreativen Mischtechniken, ein wahres Fest für Auge, Geist und Herz.
Aber wenden wir uns noch einmal der Frage zu, wie sich in 100 Jahren die Stellung der Frau eigentlich entwickelt hat, auf der Folie des errungenen Wahlrechts, der gesellschaftlichen Mitbestimmung. Dazu gibt es ja in dieser Ausstellung eine ganze Reihe nachdenklicher und drängender Beiträge.
„Wir wollen lieber fliegen als kriechen!“ hat Louise Otto-Peters einst vor mehr als 150 Jahren ausgerufen. Und wo sind wir? – Ich glaube, wir können gerade mal erst stehen. Ob es noch mal 100 Jahre dauert bis zum Fliegen?
Karl Heinz Kluitmann bietet den Frauen in seiner Zeichnung jedenfalls schon mal viele, viele Wahlkabinen an, und die Gruppe „verstoffwechselt“ läßt uns mit ihrer Minimal-KonzeptArt nicht in die Zukunft blicken.
Aber auch ohne das Kunstwerk zu zerstören ist eine Sache sicher: die Zukunft gehört uns gemeinsam, Mann und Frau, auf einer partnerschaftlichen Basis in gegenseitigem Respekt.
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