Bericht vom 04.08.2016
Hitzacker Musiktage-Buch
Mittwoch, 3. August 2016
© Jutta de Vries
Hitzacker Musiktagebuch
Mittwoch, 3. August 2016
So sorgsam und intensiv, wie Oliver Wille den Geigenton formuliert, so genau hat er auch sein erstes Programm als Intendant der „Sommerlichen“ komponiert: einen spannenderen Kontrast als den zwischen der extrovertierten Weltmusik eines Avi Avital und den introvertierten geistlichen Gesängen der mittelalterlichen Ars Nova mit dem Trio Medieval kann man sich kaum vorstellen.
Es ist eine kompromißlose Musik der Stille, die im Verdo erklingt – leider nicht in einem sakralen Raum, der die Stimmen sinnvoller getragen hätte, und auch eine Bereitschaft zur Meditation wird schon vom Publikum erwartet. Geprägt durch unsere hippe Zeit ist so mancher Besucher nicht dazu bereit – nach der Pause zeigen sich leider deutlich gelichtete Reihen. Und zum anschließenden Gespräch mit den sympathischen Sängerinnen Anna Maria Friman, Linn Andrea Fuglseth und Cathrine King aus Norwegen, Schweden und England bleiben nur noch wenige. Die Interviewsprache Englisch mag ein Grund sein, aber es ist schon sehr unterhaltsam, daß die Frage, warum nicht die Kleidung mehr an den geistlichen Inhalt des Programms angepaßt wurde, die lebhaftesten Antworten und Argumente der Künstlerinnen hervorrufen. Kleiderordnungen sind in Skandinavien eh nicht so die Kardinalfrage, aber gewisse psychologische Grundsätze besonders im sakralen Bereich sind doch nicht von der Hand zu weisen: bei Frauen bedeckt lang etwaige körperliche Eigenheiten, gleichfarbige Schlichtheit stützt Homogenität.
Upps, da habe ich auch lange das Kleiderthema variiert, anstatt über die Musik nachzudenken...Es wird klar, daß die Musikerinnen die Musik, nicht so sehr die christlichen Inhalte transportieren möchten. Zu ihrem Themenkreis gehört ja auch die weltliche nordische Volksmusik des Mittelalters. Da gibt es wenig Notiertes, und das Trio freut sich über die Zuarbeit der forschenden Zunft, selbst sitzen sie nicht in staubigen Klosterbibliotheken. Allerdings schreibt die Altistin Berit Opheim gerade ein Buch über norwegische Volksmusik und läßt sich daher für einige Zeit von der Britin Cathrine King vertreten.
Deren weicher Mezzo paßt sich gut ein, kann aber den dreistimmigen Gesängen nicht das erforderliche tiefe Fundament geben. Da diese Basis fehlt, schwebt das Programm über lange Strecken im Ungefähren. Klanglich ist das Ganze wie eine mit Silberstift gezogene, zarte Zeichnung, belichtet durch manche Melismen in den hohen Sopranbereichen. Die schlackenlosen Stimmen mit nicht übermäßig viel Volumen passen wunderbar zu dieser Musik, die so aus den berühmten Worchester-Fragments zusammen gestellt ist, daß sie an eine Messe zu Ehren von Mariae Himmelfahrt erinnert. „Lady Mass“. Diesen großen Festtag am 15. August werden im 13. Jh. auch die Mönche des Benediktinerklosters Worchester mit Gregorianischen, d.h. einstimmigen Gesängen gefeiert haben, wie wir auch hier einige hören, damit jede der drei Sängerinnen sich auch solistisch präsentieren kann.
Und dann hat sicher ein Mönch damals Noten mitgebracht aus Frankreich, aus der Schule von Notre Dame, die eine kolossal neue Idee vertrat: die Mehrstimmigkeit, später „ars nova“ genannt. Zuweilen eindrucksvoll von Glockenstab-Dreiklängen begleitet, wird dieses Geschehen im Konzert mit dem Trio Medieval ausgekostet und auch konfrontiert mit Teilen aus Messen, die von zeitgenössischen Komponisten für das Trio komponiert wurden.
Nur Kyrie und Agnus der südkoreanischen Komponistin Sungji Hong geben hier einen wirklichen Kontrast und zeigen eine Verbindung zu heutigen musikalischen Novitäten auf – Gavin Bryars und Andrew Smith verharren viel zu ehrfürchtig in den alten Strukturen, fast auswechselbar. Interessant und weiter zu verfolgen ist diese Idee aber bestimmt.
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