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Bericht vom 13.09.2012

Patricia Valencia Carstens: Retroperspectiva

Ausstellung in der Arcimboldo Galeria de Arte, Buenos Aires 13.09. - 29.09.2012

© Jutta de Vries

Patricia Valencia Carstens 2006 - 2012


Retroperspektive


Mit dieser Ausstellung kehrt eine Künstlerin in ihr Heimatland zurück, das sie in den 1980er Jahren der Liebe wegen in Richtung Deutschland verließ – nach Abschluß ihrer Kunststudien an der Escuela de Bellas Artes Pueyrredón und bei Anselmo Piccoli. Nach einer Familienphase brach der künstlerische Ausdruckswille sich in den 1990er Jahren eruptive neue Bahnen: die konstruktivistische Periode der argentinischen Jahre  wurde überlagert von der bildhaften Suche nach dem Menschen an sich und seiner Darstellung in Augenblicken des Innehaltens: Situationen von  Glück, Trauer, Verlust, Enttäuschung, von  Denken oder Träumen, die nicht selten gesellschaftliche Relvanz haben, wenn es zum Beispiel um die Stellung der Frau und ihr Selbstbewusstsein als eigenständig handelnden Menschen geht.
Daneben entstanden großformatige Serien von menschenleeren Landschaftsdarstellungen im zurückhaltend leuchtenden Licht der neuen norddeutschen Heimat. 


Waren die Arbeiten der vergangenen 10 Jahre geprägt von Kontrasten glühender Farbigkeit, die aus tiefen Bildgründen den Gegenstand verunklärten und in geheimnisvollen linearen Rotationen aus dem formalen Bildaufbau heraus brechen ließen, geben die 2012 in der Galerie Arcimboldo gezeigten aktuellen 12 Werke einen Einblick in die Experimentierwerkstatt ihres eigenen künstlerischen Standpunktes und seiner Fortschreibung in Zeit und Raum, wie ihn der Philosoph Ernst Bloch in seinem großen Werk Das Prinzip Hoffnung beschreibt: Das Vergangene ist nicht nur vergangen, sondern lebt in unserer Erinnerung als Erfahrung auch in der Gegenwart – die schon wieder Vergangenheit ist, wenn wir sie als Begriff  formulieren wollen. Und als solche weist sie in die Zukunft, die mit jedem neuen Atemzug schon begonnen hat. 


So begibt sich auch Patricia Valencia Carstens mit ihren neuen Arbeiten auf die Suche nach utopischen Orten, die sich in einer Realität jenseits der Wirklichkeit findet, im kritischen Blick zurück nach vorn. Für eine solche Vorgehensweise hatte die documenta-X-Chefin Catherine David den Begriff der „Retroperspektive“ geprägt.
Die Künstlerin zeigt in einer ersten Gruppierung großformatige Acrylgemälde von Weltkünstlern, die sie verehrt: Bacon, Beuys, Immendorff – die alle fotorealistisch dargestellt sind und aus den Jahren 2006 bis 2010 stammen.
Diese Werke hat sie fotografiert und im gleichen Format auf  PVC-Industrie-Plane übertragen und mit höchst sensitiven Übermalungen und auch Textbausteinen versehen. Die Fragestellung ist, wie sich durch eine solche manipulierte Duplizität die eigene Rezeption des abgeschlossenen Werks aus heutiger Sicht  darstellt – welche aktuellen Akzente setzt die Künstlerin, die im Zeitraum von mehreren Jahren an Einflüssen und Erfahrungen reicher geworden ist? Ja, präzisiert ist der Ausdruck, stellt sie fest – und auch, dass Joseph Beuys keinen Bearbeitungszwang ausgelöst hat – er ist die unveränderliche Größe des Kunstbegriffs. 


Die zweite Gruppe ist dem Berliner Blick gewidmet.
Außergewöhnliche Blickwinkel der Metropole sind fototechnisch auch mit den Mitteln der Collage auf Folie gezogen und vielfältig, aber deliziös übermalt. So alltäglich und wirklich könnten die Situationen sein, dass auf der Straße keiner besonders hinschauen würde – und doch  wird der Betrachter in Dimensionen geführt, die zwischen verschiedenen Stationen des Bewusstseins und der Bewusstmachung pendeln. Raum und Ort sind für die Fotografie im Zeitalter unbegrenzter technischer Manipulierbarkeit keine verlässlichen Größen mehr – die Feinheiten der digitalen Medien lassen unerkennbare Neuschöpfungen zu, die eine irreale Realität im Blick der Betrachter hervorrufen. So führen altmeisterliche Malkunst und  und modernste  technische Möglichkeiten in den Arbeiten von Patricia Valencia Carstens durch subtile Meta-Ebenen der Erfahrung von Welt – und sei es nur als Traum.


©Jutta de Vries




Zu den Bildern:


Francis Bacon (1909-1992)
Version 1
F.B., einer der bedeutendsten gegenständlichen Maler des 20. Jhts., wird hier dargestellt mit seinem Partner Mr. Dyer. Mit schnellem Pinsel hat die Künstlerin die Malweise des Existenzialisten eingefangen. 
Das  Kolorit der fleischfarbenen Palette des irischen Malers wird negiert, im Bild dominiert der schwarz-weiß-Kontrast.
Acryl/LW, 2009


Version 2
Der diffuse Raum, in dem das Paar sich bewegt, wird verortet und in eine perspektivische Linearität eingebunden. Das scheint dem Auftritt der Beiden Sicherheit zu geben, die gleichgeschlechtliche Paare zu ihrer Zeit in der Öffentlichkeit nicht hatten. Leuchtendes Rot  fließt vom Kopf des Gefährten akzentuiert bis zum Boden  - von dessen Freitod hat Bacon sich nie erholt.
Fotografie auf PVC-Folie, Acryl/Mischtechnik, 2012


Version 3
In Vergrößerung begegnet uns Bacon hier in einer Portrait-Version. Farbige Liniengespinste umziehen wie Gedanken das Gesicht. Ikonenhaft wird der Künstler hervorgehoben durch die Isolierung aus dem Gesamtzusammenhang und die Einbindung in einen Grund aus strengen Konstruktionen. Der gestische Pinselduktus mit den farbigen Verläufen und Schlieren erinnert an den Bacon-Stil.
In diesem Porträt-Ausschnitt ist Bacons zerrissene Persönlichkeit beinahe „heil“ dargestellt, so wie die Künstlerin ihn sehen möchte. Autoporträts des Künstlers sind stets stark deformiert.
Fotografie auf PVC-Folie, Acryl/Mischtechnik, 2012


Jörg Immendorff (1945-2007)
deutscher Maler, Bildhauer, Grafiker und Aktionskünstler, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Er hat sich mit gestischer Malerei zum Thema der deutschen Teilung nach 1945 einen besonderen Namen gemacht.


Version 1
Hier ist er auf dem Weg zu einer Abendveranstaltung mit seiner sehr jungen Ehefrau Oda Jaune, eigentlich Michaela Danowska. Die junge Bulgarin war Immendorffs Meisterschülerin und wurde von ihm geformt. Den Künstlernamen gab er ihr nach seiner Lieblingsfarbe gelb. 
Das wird im Bild durch den breiten lasierten vertikalen Seitenstreifen mit Namenszug deutlich.
Der Affe als 3. Im Bunde ist Immendorffs Lieblingssymbol und steht für den ironischen Blick des Künstlers auf eine anthroprozentrische Welt.
Acryl/Kreide auf Leinwand, 2006


Version 2
Der Affe wird hier hervorgehoben, korrespondiert mit dem sinnlichen Blick der schönen Oda, die hier als selbstbewusste Frau neben dem großen Künstler steht. Daher ist hier auch das Gelb die alles überflutende Farbe im Bild. Textfetzen setzen Akzente, die Veränderung andeuten: Oda Jaune ist hier nicht „die Frau, Schülerin, Geliebte von Immendorff“ im Sinne der Besitzanzeige, sondern hat alle diese Rollen aufgrund ihrer eigenen starken Persönlichkeit selbst gewählt. 
Da bleibt dem dominanten Künstler nur der skeptische Blick. Plötzlich liegt eine ganze Geschichte im Bild. Was ist passiert in der Paarbeziehung?
Fotografie auf PVC-Folie, 2012


Joseph Beuys (1921-1986)
deutscher Aktionskünstler, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf,
Als Humanist formulierte er den „erweiterten Kunstbegriff“: „Jeder Mensch ist ein Künstler“.


Version 1
Hier ist er in meditativer Profilansicht dargestellt, nach einem Foto in seiner Düsseldorfer Malklasse bei der Bewertung von Arbeiten.  Ein starker Impuls geht vom passionierten Blick aus. Das typische Profil mit Filzhut weist über den Bildrand hinaus und folgt dem Blick in die Weite. 
Das kontrastreiche Hell-Dunkel der schwarzbraunen Palette unterstreicht noch die  Intensität der Aussage „Passion makes all the difference“
Acryl/Leinwand,  2010


Version 2
Die Darstellung ist wesentlich illuminierter durch Weißhöhungen und diagonale Wischer mit  trockenem Pinsel. Es entsteht zusätzliche Bewegung im geistigen Moment, ohne die geistige Dichte der Darstellung zu  entzaubern.
Fotografie/Plane, 2012


Yo soy
Version 1 + 2
Die Rolle der Frau ist ein zentrales Thema im Werk von Patricia Valencia Carstens. Hier stellt sie einer Arbeit von 2009 eine aktuelle Antwort entgegen. Erscheint die frühere Arbeit in alptraumartigen, kalten und surrealen  Blautönen in beklemmender Dramatik, zeigt sich in der Version 2 das wunderschöne Model mit dem edlen Profil weich in goldene Brauntöne eingebettet. Sie ist wohl begehrenswerte Frau, aber ihren klaren feministischen Anspruch formuliert der  überlagernde Text in seiner Kernaussage: „Ich bin ich durch mich selbst, weil ich mich selbst akzeptiere und liebe -  und nicht, weil ein Mann mich liebt“
Diese wichtige Botschaft möchte Patricia Valencia Carstens in diese Ausstellung und zu den argentinischen Frauen bringen.
2012


Graffiti Superman
Graffiti sind im Hauseingang eines Berliner Altbaus eine ganz alltägliche Ansicht. Hier sind mehrere  Schriften und Sprachen bunt vereint. In der Übermalung der Fotografie kommt das Spanische dazu. Ganz wichtig für die Künstlerin „Yo soy“ – das könnte auch der kleine Superman sagen, der so selbstbewusst und zielstrebig vorbei kommt, von seiner imaginären Kraft voll überzeugt. Mit der Verkleidung ist er in eine andere Haut geschlüpft, ihm gehört das ganze Universum, das hier als Graffiti-Kreisform vom Zufall gegeben ist. Auch Graffiti sind Ausdruck existenzieller Selbstbestimmung, eine verzweifelte Suche der Verortung des Selbst. Hier überlagern sich verschiedene Sichtweisen in verschiedenen Ebenen – verlorene Imaginationen sind es in jeder Hinsicht. 2012


Theatrum Mundi
Der kleine Junge auf dem knallblauen Plastikstuhl scheint verlassen im riesigen völlig dunklen Raum.
Nur ein Spotlicht fällt auf ihn aus einer unsichtbaren Quelle von weit oben. Im Hintergrund deutet eine diffuse Vertikale eine Öffnungsmöglichkeit an wie von einem großen Portal.
Der Ort wirkt wie eine  Bühnensituation – Theatrum Mundi, die Welt als Bühne. Der Mensch in seinem Erwachen schaut nach oben zum Licht - zur Erkenntnis? - , mit einem Ausdruck staunender, vielleicht ein bisschen ängstlicher Erwartung. Die Körperhaltung ist locker, signalisiert aber Aufbruchstimmung und ein Gefühl von „Yo Soy“.
Der Junge wird die großen Tore ins Licht der Welt öffnen können. Ein beeindruckendes Initiationsbild. 
Graffiti Superman und Theatrum Mundi laden zu einer vergleichenden Interpretation ein. 2012


Berliner Mauer
Das Foto entstand vor einer großen Baustellen-Schutzwand  in der Nähe des Checkpoint Charly, dem  Berliner Museum für die Geschichte der Deutschen Teilung 1945-1989. Das Baustellen-Plakat zeigt das Brandenburger Tor, Wahrzeichen Berlins, wie es heute wieder steht und darunter deine Ansicht von 1945 nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg. Touristen betrachten die Wand und ein typisch cooler Berlinger Twen speedet im Vordergrund aus dem Bild heraus. 
Hier werden unsere Sehgewohnheiten geschärft: was ist Bauzaun, was Straßen-Realität im Moment der Aufnahme, was ist Foto und was Übermalung und Collage? 2012




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