Bericht vom 02.09.2012
dOCUMENTA (13) – eine Zustandsbeschreibung
BDK Niedersachsen goes Kassel vom 07. – 08. Juli 2012
© Jutta de Vries
dOCUMENTA (13) – eine Zustandsbeschreibung vom 07. – 08. Juli 2012
BDK Niedersachsen goes Kassel
©Jutta de Vries
Nein, der Meteorit El Chaco ist nicht auf seine lange Reise nach Kassel gegangen, diese spektakuläre Performance der Künstler Faivorich und Goldberg ist durch ein Volksbegehren der indigenen Bevölkerung vereitelt worden und seine 37 Tonnen ruhen nun wohl für die Ewigkeit im Campo del Cielo in Argentinien. Dabei hätte er auf dem Friedrichsplatz so gut in das (Nicht)-Konzept der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev gepasst. Sie träumt von einem weltumspannenden Kunstraum, der sich als Modell in der Kasseler Schau spiegeln soll – wie gut hätte da die Einbeziehung des Kosmos gepasst.
Aber auch das Scheitern gehört zum Bild der Welt.
Dies und noch viel mehr erfuhren die 49 d13-süchtigen Kolleginnen und Kollegen des bdk Niedersachsen, die sich nach entspannender Busfahrt am Abend in ihrem traumhaften Domizil, der hessischen Lehrerfortbildungsstätte „Reinhardtswaldschule“ im Wald unmittelbar an der Fulda gelegen und nur wenige Kilometer von Kassels Innenstadt entfernt,
von Kassels Kulturdezernent Dr. Harald Kimpel in die große Schau einführen ließen.
Der erwiesene Kenner der Documenta-Geschichte und kritische Beobachter des sich alle fünf Jahre wiederholenden Kunstevents berichtete mit launigen Worten und Bildbeispielen, gab Standortbestimmungen und machte Lust auf das eigene Entdecken des vielfältigen Stoffs, aus dem die aktuelle Kunst ist.
Die Documenta ist etwas besonderes unter den Kunstevents, Biennalen, Triennalen und Weltausstellungen der Kunst: Sie zeigt nicht Kunst um der Kunst willen, versammelt nicht im Sinne eines globalen Überblicks die gerade angesagten Künstler der jeweiligen Jahre: nein sie stellt die Frage nach dem gegenwärtigen BEGRIFF von Kunst, dazu zeigt sie Kunstwerke aus vielen Kontexten, aus denen sie sie herauslöst und in einen größeren Sinnzusammenhang stellt. Dadurch werden die Kunstwerke frei, und auch die Betrachter haben die Freiheit einer neuen Erfahrung, indem sie Kunst etwa auf dem Hintergrund von Wissenschaft oder Politik oder in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen wahrnehmen kann.
Das ist die Auffassung des Philosophen Christoph Menke.
Er fordert in diesem Zusammenhang eine radikale Selbstbefragung der Kunst und geht sogar soweit zu fragen, ob wir Kunst überhaupt noch brauchen.
Auch Carolyn Christov-Bakargiev (im folgenden CCB), diesjährige Kuratorin der großen Schau, fragt viel.
Nach den drängenden Problemen der Menschheit heute zum Beispiel oder ob sinnliche Erfahrungen durch die „zarte Kraft“ der Kunst Veränderungen mit sich bringen.
Zum Beispiel, ob Steine oder Erdbeeren fühlen und denken. Oder ob Hunde Kunst mögen.
Oder wie wir mit unserer Welt umgehen. Begriffe von Konflikt, Trauma und Zerstörung fallen in ihrem langen Essay zur Eröffnung: Gegensatzpaare von Zusammenbruch und Wiederaufbau, Streit und Versöhnung, Eingrenzung und Ausgrenzung, Altes und Neues Wissen, Zeit und Raum. Ihre Schau ist seltsam leise und ergebnisoffen, kein Konzept steht im Zentrum - einem Spiegel gleich, den sie der Gesellschaft vorhält: leben wir nicht in einer Gesellschaft, die aktuell keine Mitte hat?
„Die d13 ist ein Raum der Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, ein Ort des Übergangs und des Durchgangs zwischen Orten und an Orten, ein politischer Raum, an dem die polis nicht nur von menschlicher Handlungsmacht begrenzt wird, ein Raum des Rückhalts und des Engagements, ein verletzlicher Raum, ein gefährdeter, aber auch umsorgter Raum“ (CCB)
Die unaufgeregte aber sehr faszinierende Schau wird von mehr als 180 Künstlern und Vertretern anderer Disziplinen wie Physikern, Philosophen, Schriftstellern, Musikern und und und... getragen, darunter sind proportional erfreulich viele Frauen. 55 Herkunftsländer werden gezählt, vor allem die Krisenregionen der Welt sind massiv vertreten. Die meisten Namen hat noch niemand vorher gehört.
Im Vorfeld gab es Aufträge für 100 Essays an 100 Leute, die was zu sagen haben in der Welt, die nun an den 100 Ausstellungstagen gelesen werden, jeweils abends spät, wie auch abends spät Theaterstücke und Filme angeboten werden – wenn man will ist man bis weit nach Mitternacht in Sachen d13 unterwegs.
Es gibt auch zum ersten Mal 4 gleichzeitige Schauplätze mit Ausstellungsteilen, Workshops und Vorträgen: Kabul, Kairo, Banff (NSG Canada) und Kassel. Auch hier am traditionellen Documenta-Ort gibt es so viele dezentralisierte Außenstandorte wie nie, vor allem sind lange Wanderungen in der herrlichen landgräflichen Parkanlage gefordert, aber auch traumhaft schön (bei gutem Wetter, das uns vergönnt war!).
Die Stadt Kassel wird aus ihrem geschichtlichen Dornröschenschlaf gerissen, an vielen vergessenen und ungenutzten Orten gibt es Kunst, die auf diese Orte antwortet. So ist der neogotische Aschrott-Brunnen am Rathaus ein Ziel, der nach der Kriegszerstörung vom Künstler Horst Hoheisel mit der Spitze nach unten wieder errichtet wurde und zu ebener Erde nun nur die Grundplatte sehen lässt. Oder das baufällige Hugenottenhaus, von Theaster Gates aus Chicago mit Materialien aus einem dortigen Abbruchhaus als Atelier auf Zeit bewohnbar gemacht. Oder die vielen Geschichten über das einstige Benediktiner-Kloster Breitenau, das als Gefängnis, Nazi-Zwangslager und Frauenbesserungsanstalt zu bösem Ruhm kam.
Raum und Zeit und ihre fühlbare Präsenz sind ein wichtiger Faktor der Schau, sie wird zu einer unbemerkten Pilgerreise.
Auf dieser Reise sollten von mündigen Kunstbetrachtern möglichst mehrere Geisteszustände durchlebt werden, in denen existenzielle philosophische Phänomene eine Rolle spielen. Das ist sehr leise und sehr sensibel und äußerst klug und intelligent gemacht. Obwohl manches von diesem zugegeben komplizierten und angreifbaren, durchaus auch mit esoterischen Winkeln geschmückten Überbau fragwürdig bleibt, ganz im Sinne von CCB, ist die Schau eine Bereicherung und erstaunlicherweise ein Erfolg geworden – bis Ende Juli, zur Halbzeit also, waren 370.000 Besucher gezählt worden, im Vergleich ist die d12 bereits eingeholt. Kaum vernichtende Pressestimmen werden laut, und auch für uns bdk-Kunstpilger erweist sich die d13 als lohnender Gewinn.
Am Samstag Morgen war es nämlich so weit: in drei geführten Gruppen ging es auf Tuchfühlung mit der Kunst im Fridericianum, der Documenta-Halle und in der Neuen Galerie. Das viel beschriebene hochgejubelte ganz neue Vermittlungskonzept der „wordly companions“ erwies sich in unserem Fall als ganz normale Führungsarbeit von mehr oder weniger „weltgewandten“ Begleitern. Wo findet sich endlich der Stein der Weisen in diesem wichtigen Bereich?
Aber viel ist im Gedächtnis und im Herzen geblieben: die Fridericianum-Rotunde mit CCBs „Brain“, dem Surrogat von exemplarischer Weltkunst. Neben Fotos der Kriegsfotografin Lee Miller in Hitlers Badewanne samt Originalexponaten oder Ahmed Basionys Video von den Aufständen am Tahrir-Platz, die ihn das Leben kosteten; zauberhafte weibliche Miniatur-Statuetten aus dem Zentralasien des 3. Vorchristlichen Jahrhunderts aus grafisch verziertem Speckstein stehen mehreren zu einem Klumpen verschmolzenen Artefakten aus dem gebrandschatzten Beiruter Nationalmuseum gegenüber. Im überfüllten „Brain“ erzählt jedes Objekt seine lange Geschichte, wie überhaupt vieles im gesamten Ausstellungsbereich nur durch die narrativen Elemente klar wird: Korbinian Aigners Apfel-Serien, Pratchaya Phintongs Tsetse-Fliegenpärchen, Michael Rakowitz’ Stein-Nachbildungen der verbrannten Kasseler Bibliothek, Goshka Macugas Treffen im Präsidenten-Palast von Kabul.
Die Documenta-Halle ist diesmal der Hit unter den Ausstellungsorten. Von Gesamtkünstlerin Etel Adnan(1925) mit ihren kleinformatigen, farbenfrohen konstruktivistischen Arbeiten, über Thomas Bayrles Riesenflugzeugcollage und betende Maschinen, von Nalini Malanis poetischer MultiMedia-Rauminstallation zur Geschichte der indischen Frauen bis in das Bild-Depot von Yan Lei, der von seinen 360 ursprünglich gegenständlichen Gemälden mit Studenten der KhK täglich mehrere als Farbfelder übermalt und wieder aufhängt, damit am letzten D13-Tag ein Raum voll konkreter Kunst zu sehen ist.
Über den Grat des Kasseler Kriegs-Schuttbergs geht’s zur Neuen Galerie, hier fasziniert der Kanadier Geoffrey Farmer an der Fensterfront mit einem Galerie füllenden Blätterwald aus 50 Jahren Time Magazine.
Zur Erholung und weiterer Kunst-Expedition lockt die Karlsaue, vorbei am schmackhaft bewachsenen Kasseler-Müll-Berg des Chinesen Song Dong, an den zahlreichen unterschiedlichen Kunst-Hütten, die sich wie Grimms Knusperhäuschen im herrlichen Baumbestand verstecken und auf 6km-Rundparcours auf Entdeckung warten. Hier wird’s auch spirituell, mit Ideen von Harmoniesuche und Müllverwertung, gelebter Natur und Ahnenkult. Ganz hinten im Park lassen sich Hunde nur mit Leckerli zur Kunst verführen - kursierte nicht schon der Kalauer vom „dogchair“ und der „dogumenta?“
Fehlanzeige. Die gemütlichen Doc(k)chairs an Landgrafs künstlichen Kanälen laden zur wahrhaft nötigen Rast für erschöpfte bdkler, von denen sich auch einige noch aufmachen zu Tacita Deans großformatigen Wandtafel-Kreide-Bildern von der afghanischen Bergwelt im alten Finanzamt und zum Kulturbahnhof. Dort im alten Gleisbett ist mit Haegue Yangs geisterbewegtem metallischem Jalusetten-Ballett ein faszinierender grafischer Farbe-Raum-Bezug entstanden, nur noch getoppt von Altmeister William Kentridge aus Südafrika, der in seinem Schattenkabinett ein Multimedia-Gewitter zur Verweigerung der Zeit abgehen lässt.
Voll beladen mit Eindrücken und schweren Katalogbüchern tauschen die Kollegen und Kolleginnen sich auf der Rückfahrt kritisch, nachdenklich, positiv aus. Viel herzlichen Dank erhalten Jutta Felke und Anna Frauendorf für die super gelungene Organisation.
Und ganz sicher heißt es für eine ganze Anzahl von Kursen nach den Sommerferien „Ab nach Kassel!“
Literatur
dOCUMENTA (13) Katalog 1/2/3/
Buch der Bücher ISBN 978-3-7757-2950-5
Das Logbuch ISBN 978-3-7757-2952-9
Das Begleitbuch ISBN 978-3-7757-2954-3
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