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Bericht vom 12.03.2006

Aus der Luft gegriffen

Aira Haase im Rathausfoyer Stade - Einführung am 10. März 2006

© Jutta de Vries

Wie gern, meine Herren und Damen, greifen wir Menschen uns etwas aus der Luft – diese „Luft“, die gasförmig, durchsichtig, unsichtbar ist und doch für die freien menschlichen Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte das unendliche Universum beinhaltet.

So können wir aus ihr Luftschlösser bauen, die nach Belieben ausgestattet und verortet sind. Leben wir als Tagträumer ausschließlich in unseren Luftarchitekturen, wird’s gefährlich – wir verlieren den Kontakt zur Realität. Nicht ganz ungefährlich und ziemlich brisant kann es auch sein, wenn wir Tatbestände und Informationen für wahr halten, die andere aus der Luft gegriffen haben, um uns zu schaden oder ihre eigene Haut zu retten.

Darüber hinaus ist die Luft, die wir uns automatisch greifen, zu jeder Sekunde unseres Daseins lebensnotwendig, wenn wir auch immer erst dann daran denken, wenn sie uns knapp wird – im Atem liegt die Basis unserer funktionalen Existenz.

In ihren ganz neuen Arbeiten greift Aira Haase auf Orte zu, in denen Sie gelebt und gearbeitet hat, die ein Stück ihrer persönlichen Existenz widerspiegeln.

Das sind Hamburg – dort besuchte sie von 1980-87 die Kunstschule Blankenese, und Buxtehude – hier wohnt sie seit 1970 und arbeitete dort vor ihrem Ruhestand als Architektin. Die Ansichten von Stade möchte sie als Dank für die Einladung zu dieser Ausstellung verstanden wissen.

Die Reihe ist noch lange nicht vollständig. Berlin wird folgen – dort studierte Aira Haase Architektur an der TU, und natürlich Finnlands Hauptstadt Helsinki, denn dort ist die Künstlerin geboren und aufgewachsen. Diese schöne Stadt zwischen Land und Meer (dort hat übrigens vor 100 Jahren der finnische Staat als erster in der Welt das Frauenwahlrecht eingeführt – es ist ja gerade Frauentag gewesen, da kann dies auch noch erwähnt werden), hat Aira Haases Blick auf die Dinge geprägt.

Die Dimensionen des Himmels, der Sonnenglanz, der sich in Sommernächten in den Weiten des Meeres und der Gewässer spiegelt, die Wellen, die um die Vielzahl der Inseln und Schären aufschäumen, die unendlich vielen Blautöne, die in der Reinheit der Luft changieren – diese Erfahrungen subsummieren sich in den Arbeiten vom Wasser, die Aira Haase in einem zweiten Teil der Ausstellung zeigt. Wenn Wasser wäre...oder Suche nach Undine ist er betitelt. Wenn Wasser wäre… eine Zeile aus TS Eliots Poem Wüstes Land, gab einer Ausstellung 2002 im Buxtehuder Kunstverein den Titel. Die Ausstellung wurde mit großem Erfolg auch in der Partnerstadt Blagnac gezeigt. Aira Haase war eine der vier ausstellenden Künstlerinnen und thematisiert in ihren Arbeiten die Geschichte der Meerjungfrau Undine. Dieses mythische Wasserwesen hat ja die luftgreifendsten Phantasien vor allem der männlichen Künstler hervorgerufen, an unzähligen Beispielen aus der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte lässt sich das belegen.

Die lange Geschichte von der freien, an der Erschaffung der Welt beteiligten Wasserfrau, die aus ihrer Verbindung mit der Luft Götter und Menschen gebiert, über die Schicksalsfrauen, die den Weltenbaum wässern, bis zu den Geistwesen, die es zu erlösen gilt aus ihrer Sprach- und Seelenlosigkeit, wie bei La Motte-Fouqués Undine, Goethes Schöner Melusine, Heinrich Heines Loreley, bis zu Ingeborg Bachmanns Undine geht, die schließlich aus dem unendlichen Kreislauf der Beziehungsdramatik zwischen Mann und Frau ein zwar wütendes, aber hoffendes Prinzip macht, - diese lange Geschichte wird von Aira Haase in 8 Tafelbildern erzählt.

Die Wasserfrauen-Rezeption als Spiegelung menschlicher Sehnsucht nach Freiheit von den eigenen Zwängen folgt hier aber nicht dem mimetisch abgebildeten Gegenstand, sondern folgt der Kraft der abstrahierenden Imagination, die der Undine-Idee innewohnt. So ist hier das Wasser zum Storyboard geworden, ist Ausdruck des Geschehens, ähnlich wie in Schuberts Liederzyklus Schöne Müllerin, wo der Bach die Seelenzustände des jungen Müllers kommentiert. In fast unberührter Natur, am romantischen oberen Este-Lauf mit seinen Strudeln, stillen Becken und Schleusen hat die Künstlerin ihre Undine gefunden und ihr einen dramatischen Rhythmus zugeordnet. Titel wie Wasser fließt, Undines Reich, Begegnung, Zusammensein oder Trennung helfen bei der Entschlüsselung.

Zuerst werden wir in Undines Reich eingeführt, romantische Tiefen mit lichtvollen Reflexen in einer Unter-Wasserlandschaft beschwören Sein und Sehnsucht, die stets im Fluss zu sein scheinen. Begegnung bedeutet sich Verlieben, mit weichen Strukturen, Tanzbewegungen in hell gewellten Formen. Zusammensein zeigt wie in einer weiten Landschaft Undines Leben in der Welt. Es gibt Balance und Harmonie, aber auch tiefe Abgründe. Trennung verarbeitet die Katastrophe, den voraussehbaren Untergang. Hier schlagen die Formen in unerbittlicher Härte zu, wenn auch die Spiegelungen eine Milderung anklingen lassen. Eingerahmt werden die Großformate von kleineren Auseinandersetzungen mit der kanalisierten, technisch gelenkten Wasserkraft, das sind Nahsichten von Este-Schleusen. Ausschnitthaft, im Fokus der Vergrößerung, erscheint zum einen der Augenblick der Fülle im Stau, ein Augenblick ungeheurer gebändigter Kraft, der die Beziehung standhalten muss; zum anderen der Augenblick der Schleusenöffnung – Wasser und Beziehung fallen entfesselt in ein anderes Niveau, ins Bodenlose.

Die Arbeiten faszinieren in diesem ja etwas problematischen Ausstellungsraum besonders, weil sie mit dem rustikalen Backsteinrot der Wände harmonieren. Der so entstehende Kalt-Warm-Kontrast führt zur Beachtung der weiten Blau-Grün-Palette, deren ganz sparsamer Rot-Einsatz die Wand repetiert. Die Leuchtkraft kommt aus dem reinen Pigment des echten Kobalt-Blau, das Aira Haase in allen Schattierungen von blauschwarz bis wasserhell einsetzt. Die hier verwendeten Ei-Tempera-Farben hat sie selbst hergestellt und in vielen Schichten übereinander auf die Leinwände gelegt. Die Malgründe hat sie zuvor mit Seidenpapier präpariert. In der Vorstellung der Künstlerin ist die Relief-Grundierung das fließende Kleid Undines, das sich im Spiel von Natur und Emotion formgebend verwirft. Maltechnisch stehen dem schäumenden Farbenüberschwang der bewegt tachistischen, fleckhaften Malweise vereinzelt klare konstruktive Elemente gegenüber.

Die helfen mir auch, auf den anderen Teil der Ausstellung im Obergeschoß überzuleiten.

Hier sind es ganz klar die konstruktiven Prinzipien, die das Interesse der Künstlerin, der Architektin wecken. Das wird ganz konsequent schon in den Formaten signalisiert, die das Quadrat als Ordnungsprinzip thematisieren. Inhaltlich werden wir in die isometrische Dreidimensionalität von topographischen Ansichten geführt. Aira Haase schaut aus der Vogelperspektive wie durch eine überdimensionierte Lupe auf die Spuren menschlicher Zivilisation: Da liegen sie aneinandergereiht, die Kuben der Altstadthäuser von Buxtehude und Stade, die repräsentativen Hamburger Stadthäuser und Hafengebäude, mit den markanten Landmarken der Kirchtürme und den gewachsenen Grundrissen. Die Leinwand wird in gegenstandsgebundene Farbigkeit getaucht, Ölfarben sind es diesmal, die die Qualität von Stahl, Backstein, Sandstein und tönernen Dachziegeln vermitteln, hier und da sind die luftperspektivisch angelösten Konturen mit Schattierungen hervorgehoben, Städtisches Grün setzt Akzente. Wichtig ist auch hier die Verbindung zum Wasser.

Ohne Wasser kein Ort, an dem sich Aira Haase hätte aufhalten mögen. Wie ein Kind mit Bauklötzen seine Stadt-Träume verwirklicht, so baut sie die Städte ihres Lebens in schnellen, kleinen Ausschnitten, liebevoll, aber ohne Details, auch ohne Anzeichen urbaner Aktivitäten: weder Autos, Fahrräder, Busse, noch Mensch oder Tier sind gewollt. Es ist der große Überblick, den Aira Haase sich verschafft, gewissermaßen der Topos einer Spurensuche unter den Himmeln von Hamburg, Buxtehude und Stade.

Wir sind schon gespannt auf den Griff in die Lüfte von Berlin und Helsinki!

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