Aktuell

News-Archiv
Zurück zur Übersicht
Bericht vom 19.10.2010

Sommerliche Musiktage Hitzacker 2010: Zwischen Apollon und Dionysos I

Ins Labor!!! ...und Ins Vergnügen!!!

© Jutta de Vries







Sommerliche Musiktage Hitzacker 2010: 
Zwischen Apollon und Dionysos
Ins Labor!!! ...und Ins Vergnügen!!!


Das Labor als musikalischer Arbeitsplatz ist angesagt in diesem Sommer – Lohengrin-Regisseur Neuenfels in Bayreuth und Hitzacker-Intendant Dr. Markus Fein ziehen sich beide den weißen Forscherkittel an, und das nicht nur, weil ihre  in vieler Hinsicht herausragende grüne Hügellage schon früher im Vergleich stand. Ein Vergleich, der in diesem Fall kontrastreicher nicht sein könnte. Denn Markus Fein ist  mitnichten der anklagende Geist, der stets verneint, hingegen feiert er den Forscherdrang, das Experiment, die spielerische Neugier, die große Komponisten aller Epochen mit Lust ins Labor und in die Hexenküchen ihrer Kunst getrieben hat, worauf dann Unerhörtes und Ganz Neues entstand.


Und mit dem appellativen Imperativ des Festival-Mottos „Ins Labor!“ gehört, wie immer in Hitzacker, das Publikum mit zu den Akteuren. Im 65. Jahr der Musiktage ist „Rentenalter“ ein Fremdwort!
Denn Kammermusik und Musikverwandtes auf allerhöchstem Niveau, Intimität und Weltoffenheit, Innovation und Entdeckerfreude, Tradition und Vision, Hörerbildung mit Lusteffekt, Jugendförderung und mitreißende Animation für Jung Gebliebene: das alles und viel mehr ist in der ersten Augustwoche fast rund um die Uhr    
d e r    Hit in deutschen Festival-Landen. 


Die Bedeutung der Sommerlichen Musiktage besonders für Niedersachsen zeigte sich im Besuch des gerade erst neu gewählten Ministerpräsidenten David McAllister und zahlreicher Vertreter der Politik, aber auch in der langen Reihe der Förderer und Sponsoren.


Die spannende Laborarbeit begann am Eröffnungswochenende mit so renommierten Künstlern wie dem Composer in Residence Matthias Kaul, Komponist und Schlagzeuger, und seinem Auftragswerk „Glowing Sea“ das percussive Positionen zu authentischen Unterwasserklängen erfindet; mit der feurig explosiven Via Nova Percussion Group,  mit dem phänomenalen Pianisten Konstantin Lifschitz, der mit dem profilierten Szymanowsky-Quartett eine unglaublich dichte Bachsche Kunst der Fuge zelebrierte und mit Schostakowitschs Klavierquintett in Beziehung setzte; dem unvergleichlichen Boulanger-Klaviertrio mit Charles Ives; oder  der Spitzen-Geigerin Carolin Widmann im Spitzen-Ensemble mit Blockflötist Maurice Stegmann und Cembalist Naoki Kitaya. Die drei setzten – selbst Virtuosen von heute – ausgewählte Barock-Virtuosen in Vergleich zur spätromantischen Virtuosität des Belgiers Eugène Isaye – tiefe Schichtungen in der legendären Hexenküche über den musikalisch-mathematische Formenkanon, über elektronisch gebannte Klänge der ungebändigten Natur, über visionäre und meditative Klangräume zu barockem Affekt und romantischem Gefühl.


Ungeahnte Hörerlebnisse wurden da geboten und mit Emphase aufgenommen – schon vier gleichzeitig an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Stücke spielende Blaskapellen sind „nichts für schlaffe Ohren“ wie Charles Ives einst zu diesem Experiment kommentierte, das in Hitzacker auf „steile, offene Ohren“ traf – Experiment gelungen.


Bei Redaktionsschluß war das  musikalische Forschungsvorhaben noch in vollem Gange:
Neben dem ständig wachsenden begehbaren Klanglabor von Matthias Kaul und dem begehbaren Orchester der Hamburger Sinfoniker gibt es wieder den Festival-Walk durch die musikalisch und wissenschaftlich präparierte Elbtalaue, und  mit diesen Programmteilen und ganz besonders auch mit dem Charles-Ives-Tag  als Geschenk zum 65sten für den Ort Hitzacker, geht auch Markus Fein ins Labor und probiert die Wirkungen großräumiger Klanglandschaften aus, die besondere Dimensionen zwischen den Künsten ermöglichen. Sie fließen so zu Land-Klang-Art-Experimenten zusammen und revolutionieren auf diese Weise das Profil von Musikrezeption. 


Um syästhetische Wahrnehmungswirkungen geht es mit der Frage „Wie duftet Musik von Debussy?“ oder „Welche Farben hört Skriabin?“ Zur Unterstützung gibt es den Duft einer Parfümeurin für  alle... Und ganz neue Erkenntnisse vermittelt der finnischen Schreichor HUUTAJAT - Musik, die sicher keine „schlaffen Ohren“ verträgt.


Innovativ, humorvoll, aber auch wieder mit heiligem Ernst komponiert ist dieses geradezu naturphilosophisch angelegte Programm, das Fragen stellt, das auch Neues im Alten findet und den Großen der Musikgeschichte den gebührenden Raum in unorthodoxen Kontexten schenkt.


Themenbereiche, die auf der Zunge zergehen,  natur-romantische Synonyme wie „Universe“ „Aufbruch ins Geheimnis“, „Sphären, Fantasien, wandernde Seelen“, die Hexenküche der Mythen und Märchen – das alles steht zur wissenschaftlich aufgeklärten Laboratmosphäre als fruchtbarer musikalisch wetteifernder Kontrapunkt wie die Welten zwischen Kant und Nietzsche, zwischen homo laborans und homo ludens.


Und so scheint das diesjährige Hitzacker-Labor ein loderndes Feuer zu sprühen zwischen Wissenschaft und lustvoller Leidenschaft, zwischen dem appollinischen und dem dionysischen Prinzip. Markus Fein, der sich im Sommer 2011 nach seinem 10. Hitzacker-Jahr in Richtung Berliner Philharmonie verabschiedet, hinterlässt dem Festival die unbeantwortete Frage nach der Priorität.








Zurück zur Übersicht

Zurück zur Übersicht