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Bericht vom 18.04.2010

ZeitZeich(n)en!

20jähriges Jubiläum der Malakademie Minke Havemann

© Jutta de Vries

ZeitZeich(n)en
Ausstellung zum 20.jährigen Jubiläum des Malateliers Minke Havemann in Hagenah
Einführung am 18. April 2010
Jutta de Vries


Heute feiern wir!
Zwanzig Jahre – liebe Minke, welch eine Zeitspanne, welch ein ZeitZeichen!! Ich erinnere mich noch gut an Deine erste Ausstellung hier im neuen Atelier und wie viel interessante Kunst von KollegInnen, wie viele schöne Präsentationen Deiner Werke hat es hier bei Dir seither gegeben! Und wie viel Frust und Lust und Arbeitsschweiß ist in all diesen Jahren von den fleißigen AkademieschülerInnen hier angesammelt worden! Und wie erfrischend, dass wieder alle in einer gemeinsamen Ausstellung die vergangene Arbeitszeit gemeinsam feiern! Und schön, dass auch wieder eine Kindergruppe dabei ist, die aber noch ganz neu erst seit ein paar Monaten mit der Kunsttherapeutin Beate von der Decken spielerisch ihre Fähigkeiten entdeckt und ganz stolz mit ausstellen darf.


Wir geben uns heute gern der Erinnerung hin, denn dieser Tag ist eben nicht die Sehnsucht nach dem eventuellen paradise lost, kein Pfad auf der Suche nach der verlorenen Zeit im Proust’schen Sinne, auch keine Suche nach dem Omegapunkt, wie sie aktuell von Don DeLillo in seinem neuen Roman durchgeführt wird.
Der Titel, den Du gewählt hast, „ZeitZeich(n)en“ macht es ganz deutlich: diese Retrospektive findet Heute statt, im Jetzt-Begriff von Zeit, als Zeichen, dass im bildnerischen Tun gesetzt wird, als carpe diem,(der römische Dichter Horaz fordert uns dazu auf, den Tag zu genießen) einer klassischer Freude an der Feier des Augenblicks. 


Die Feier des Augenblicks ist im Wissen um seine Vergänglichkeit immer mit Wehmut verknüpft – eine fröhliche Betrahtung von Zeit gibt es philosophisch deshalb nit. Aber der Augenblick der Feier fordert einen  strahlenden Genuss ein, so als ob man dazu alle Zeit der Welt hätte: die Melancholie liegt im Konjunktiv, aber auch die Hoffnung schwingt dazu, damit die Erinnerung den Abglanz lange wach hält, wenn die Koordinaten der physikalischen Zeit sich im Raum längst vom Schnittpunkt entfernt haben. Dann bin ich ja nämlich schon in der Zukunft meines gegenwärtigen Augenblicks gelandet, und denke an das damit verbundene Freudengefühl zurück in die Vergangenheit – gedanklich fasse ich damit Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit in einem einzigen Begriff zusammen, dem Begriff der Zeit. Und der passiert im JETZT, weil die Erinnerung an Vergangenes im Jetzt stattfindet genauso wie die Erwartung von künftigem, zum Beispiel weiteren tollen Aktivitäten hier im Atelier Minke Havemann. Das ist ein total effektiver kognitiver Prozess, auf den wir Menschen stolz sein dürfen, weil wir darauf  sozusagen die alleinigen Rechte unter allen Lebewesen haben.


Ziemlich verwirrend, diese Überlegungen, nicht war?


Was also ist die Zeit? 
Haben wir Menschen, hier als Rezipienten, ein spezielles Organ zur Wahrnehmung von Zeit?
Können wir sie schlüssig definieren? Aber wie?  Klar, können wir: 1 Jahr hat 12 Monate, 30 Tage, 8760 Std, 525 600 Min und 3 163 000 Sek, und 1 Sekunde ist das 9 192 631 700-fache der Strahlungsdauer eines Cäsium-Atoms. Minke bindet diese Zahlen in die grafisch raffinierten Erfindungen ihrer neuen Kugelschreiber-Zeichnungen ein, die der Ausstellung den Titel gaben.


Toll, werden Sie sagen, aber das kann es doch nicht gewesen sein. Neben der naturwissenschaftlichen definiert sich Zeit ja auch als eine individuelle philosophische Denkweise, mit der jeder einzelne von uns die Welt betrachtet. Denn wenn es um Zeit als Phänomen geht, sind wir ja alle Experten Wir stehen gewissermaßen mitten in ihr, als Zeitzeugen im Zeitgeist, wir  verändern uns, altern, segnen das Zeitliche. Wir erkennen die Spuren der Zeit um uns herum. Wir messen sie, haben welche oder meistens nicht, sind auf der Suche nach der verlorenen. Und wir kennen Momo, denn manchmal vergeht die Zeit im Flug, und manchmal scheint sie endlos – das ist dann mit Einsteins Relativitätstheorie wieder ein anderes Thema, und die Beispielreihe könnte man beliebig lange fortführen. 


Die ständige Präsenz der Zeit in unserem Denken - bis auf die wenigen glücklichen Momente in unserem Leben, in denen wir sie vergessen - beweist ihre Existenz als Teil der universalen Harmonie, wie sie vom alten Vorsokratiker Heraklit im 6. Vorchristlichen Jahrhundert definiert wurde:  Die Zeit ist ein Kind, das mit kleinen Kieseln spielt am Ufer des Meeres....."


Was also ist die Zeit?
Soll heißen: er weiß es auch nicht.


Und der alte Kirchenvater Augustinus im 4. nachchristlichen Jahrhundert verzweifelt, wenn er in seinen „Bekenntnissen“ schreibt:
Was also ist die Zeit? 
Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Werde ich aber danach gefragt und will ich es dem Frager erklären, dann weiß ich es nicht!
Und bis heute haben die Philosophen sich an dieser Frage letztendlich ergebnislos abgearbeitet. (Goethe, Hofmannsthal, Husserl...)


Wenn wir auch keine Antwort finden, können  wir aber immerhin mit dieser Frage  umgehen und weiter Fragen stellen, durch freie Entscheidungen selbst bestimmen, was der Sinn unseres Lebens in der uns zugemessenen Zeit sein könnte.


Und genau das hast Du, liebe Minke, mit Deinen Kursteilnehmern bei der Vorbereitung dieser Ausstellung getan – innegehalten und gefragt: wie kann Zeit in der bildenden Kunst grundlegend thematisiert werden? Welches Verhältnis habe ich zu der Trias: Erinnerung (Vergangenheit) – Augenschein (Gegenwart) – Erwartung (Zukunft)? Wie kann der Augenblick festgehalten werden, wie vermittelt sich meine individuelle Zeit-Empfindung auf den Betrachter? Ein schwer umzusetzendes, anspruchsvolles Thema, einem Jubiläum angemessen, und die Werke haben sich wieder so differenziert, so individuell aus dem Unterrichtsgespräch, der fachlichen Beratung und der gemeinschaftlichen Zielrichtung entwickelt, dass es für mich eine besondere Freude ist, jetzt alle Teilnehmenden zu benennen. Manche sind ja auch schon seit Beginn der Malakademie Hagenah dabei, sie feiern heute auch ein heimliches Jubiläum. (Liste der Teilnehmenden).


Die Vielfalt der Techniken und Ausdrucksformen macht das Betrachten wieder besonders unterhaltsam: von der Fotografie, der Handzeichnung mit Blei- und Buntstift, der Monotypie als Drucktechnik, der Collage, der Farbkreiden und der unerreichten Havemann-Eitempera-Technik, die manche „Akademici“ nach vieler Übung schon prima beherrschen, bis zu Aquarell, Gouache und Öl bis hin zur plastischen Ton-Modellage, bei der die Zeit praktisch durch die Finger rinnt, haben alle sich frei in den adäquaten Inhalten ausgedrückt.


Da gibt es die Gruppe von klassischen Stilleben, die als Gattung ja den Gedanken der Vergänglickeit, der zerfließenden Zeit schon thematisieren, es gibt Blumen in verschiedenen Stadien ihres Seins, Landschaften und ihre Teil-Isolierungen wie den Baum - als Metapher für den Jahreskreis der Zeit in der Darstellung von Frühling, Sommer, Herbst und Winter, von Tageszeiten und Gestirnen, die den Zeitlauf tagebuchartig dokumentieren. Auch das Wasser darf in unserer norddeutschen Gegend  nicht fehlen, als Metapher für die unendliche, Gezeiten abhängige  und damit kosmisch berechenbare Wiederkehr einer jeden Welle. Oft wird der Rhythmus unserer Zeiteinteilung thematisiert, der Dualismus zwischen Arbeit und Muße,  die Geschwindigkeit oder lähmende Wartezeit im Verkehr, das Reisegepäck, die Zeitreisen zu berühmten Personen oder Epochen der Zeitgeschichte. En Thema ist der Mensch in seiner physischen  Antwort auf die Zeit, exemplarisch und Generationen übergreifend dargestellt, eine künstlerische Herausforderung, die schlüssig gelöst wurde. Ebenso der 3 x krähende Hahn – in seinen drei Dimensionen von Technik und Format und Farbe besitzt diese Werkgruppe noch den besonderen Kick von Esprit auf einer zweiten semantischen Ebene. 


Zu den gegenständlichen Arbeiten, die den Gesetzen der mimetischen Genauigkeit, der Kenntnis von Form, Format und Farbgesetzen in großer Selbstverständlichkeit Folge leisten, gibt es Werke, die sich der Thematik mit abstrahierenden Mitteln nähern. Mit konstruktiven, Signet-artigen oder gestischen Elementen und reiner Farbe als Bildinhalt werden Assoziationen und Bedeutungsebenen von Zeit und Raum im Betrachter erweckt. Natürlich dürfen auch Symbole nicht fehlen, allen voran die Uhr in unterschiedlichster Darstellungsform, mal 5 vor 12, mal zeigerlos-zeitlos. 
Und das Stichwort Uhr erinnert mich an die bemessene Zeit, die mir hier heute gegeben ist, obwohl die bunte Fülle der Ideen noch lange und intensiv zu  Kommentaren einladen könnte. Das Thema, so schwierig es umzusetzen ist, bietet eben viele Inhalte, weil nichts unsere menschliche Erfahrungswelt so prägt wie die Zeit. 
Nun begleiten Sie mich gedanklich ins Haupthaus, denn dort hat neben einigen wenigen Akademie-Arbeiten Minke Havemann ihre ganz persönlichen 20 Hagenaher Künstlerjahre präsentiert. Die Linie beginnt schon hier mit den aktuellen Kugelschreiber-Zeichnungen, die auf Einladung des Buxtehude-Museums für die Ausstellung zu Beginn dieses Jahres entstanden sind; wir feiern Wiedersehen mit den vier Rasenfleck-Jahreszeiten von 2009, die auch Altmeister Dürer gefallen hätten. Dann das Löwenzahl-Bild - Mit der Minke-typischen kubischen Rand-Einteilung sind viele Einzelaspekte einer malerischen Idee im Bild darstellbar, eine zeitgenössische Version mittelalterlicher Heilsgeschichten-Tafelbilder.
Auch im Haupthaus finden wir dann die künstlerische Handschrift, die im Lauf der 20 Jahre erkennbar geblieben ist, sich aber in subtiler Weise sphärischer und dadurch tiefenwirksamer zeigt. Bei gleich bleibender altmeisterlicher Technik fangen die Dinge an zu schweben – und es dauert wohl nicht lange, liebe Minke, dann hebst Du ab...und hast den Himmel auf Erden....
Im unmittelbaren Vergleich gibt es „Mein Dorf und ich“ mit Reverenz an Chagall, das war das erste Bild, das damals im neuen Domizil entstand. Und dagegen das neue, „Die Zeit – das Leben ist wie ein Wald, in dem man sich verirren kann“. Hier lassen die endlos über den Bildrand wachsenden Baumriesen, in deren Schutz die 5 Minke-Geschwister eng gekuschelt auf einer Bank sitzen, erahnen, in welche Dimensionen wir kleinen Menschen uns mit dem Eintritt in die Zeit hinein wagen. Wunderbare Highlights der letzten Jahre sind zusammen gestellt, die berühmten Rosen, die Tulpen, Tag/Nacht Bilder als Simultan- und Langzeitstudien, Impressionen aus heiteren Italien-Zeiten. Und schon einige Arbeiten einer neuen Serie „Farbe bekennen“, die  die barocke Trompe l’Oeil-Technik mit geometrischer Abstraktion, mit dem Doppelbödigen und der reinen Farbe verbindet. Spannend! 
Um frühere Serien in Erinnerung zu bringen, gibt es kleine Leinwand- und Papierdrucke in hoher Qualität. Da steht so manche Ausstellungssituation wieder vor unserem geistigen Auge, als sei es gestern gewesen.


Stille Sinnbilder von Aufbuch in neue oder andere Zeiten sind schließlich die Fensterbilder und das aktuelle Klöndör-Werk, zu dem eine Gedichtzeile fragt: 
Man blickt hinein
Man blickt hinaus
Am Morgen am Abend
Doch was liegt dazwischen?


Diese Frage nach dem „Dazwischen“ ist es, die die Künstlerin in ihren Bildern immer neu zu thematisieren vermag. Ihre Bilder sind klingend vor lauter Zwischentönen, sie befragen uns und regen uns zum genauen Sehen und Nachdenken an. Und deshalb hält man immer wieder gern Zwiesprache mit ihnen, entdeckt stets noch Neues und man befreundet sich. Es entsteht diese enge Beziehung von Wertschätzung und Liebe, die im besten Falle zeitlos ist...


Was also ist die Zeit?


Möglicherweise ist es genau dieser glückliche, zeitlose Augenblick eines freudigen Tages –den lassen Sie uns nun miteinander genießen.


 


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