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Bericht vom 15.03.2010

Arthur Honeggers „Le Roi David“ in Stade

Stadtkantorei macht Riesenschritt in die Musik des 20. Jahrhunderts

© Jutta de Vries

Arthur Honeggers „Le Roi David“ in Stade
Stadtkantorei macht Riesenschritt in die Musik des 20. Jahrhunderts
©Jutta de Vries 14. März 2010 




In dieser Passionszeit erklingt in St Wilhadi, der Heimstatt der Stadtkantorei Stade, mal nicht eine der großen Passionsmusiken von Bach oder anderen viel geliebten Komponisten vergangener Epochen – nein, das 20. Jahrhundert wird endlich in den Blick genommen mit „Le Roi David“, „König David“, von Arthur Honegger. Hauke Ramm und seine Kantorei machen damit einen Riesenschritt in die Moderne, jene Zeit, die in der Kunstgeschichte mit Expressionismus, Surrealismus, Abstraktion und Neuer Sachlichkeit schon längst beim Publikum angekommen ist – wir erleben das ja in Stade in den letzten Monaten und ganz aktuell an den hohen Besucherzahlen im Kunsthaus. 


In der klassischen Musikszene sieht das ganz anders aus, denn Klänge jenseits diatonischer Harmonien führen ja beim Hören nicht unbedingt zu dem Wohlbefinden, das ein Musikfreund für sich bis heute als Kunst“genuss“ fordert. 
So sahen das vielleicht auch manche Stader, die der Aufführung am vergangenen Sonntag fernblieben. Gleichwohl war das große Hauptschiff  in Wilhadi gut gefüllt, und der frenetisch zu nennende Beifall nach intensiven 90 Nonstop-Minuten sprach eine ganz deutliche Sprache der Begeisterung.


Dabei ist das Frühwerk von 1921 des damals 28jährigen Komponisten durchaus gewöhnungsbedürftig, und das nicht nur musikalisch mit seinen grellen emotionalen und stilistischen Kontrasten, den Wanderungen durch die Tonarten, den kunstvoll verarbeiteten Zitaten von  Bach bis Wagner und Stravinsky. Und in die Kategorie Passionsmusik gehört das Werk nur insofern, als das Leid der stets in Krieg und menschlichen Fehlern verstrickten Israeliten um die alttestamentarische Titelfigur David thematisiert wird, als Leid, das in der abschließenden Verheißung des Engels auf  dereinstige Erlösung durch den „Gnadenkelch“ Christus verweist.


Ursprünglich ist König David als Theatermusik auf den Text des Schweizer Schriftstellers René Morax entstanden, der das Werk für sein neu gegründetes Dorftheater geschrieben hatte. Eine Herausforderung für den noch fast unbekannten Honegger, der die Partitur in nur zwei Monaten niederschrieb – und nur sechs Wochen später fand die Uraufführung statt!
Die ungewöhnliche Urfassung des Orchesters in Bläserbesetzung mit Klavier, Harmonium (Orgel) und Celesta, die auch in Stade gegeben wurde, war den dörflichen Gegebenheiten angepasst, und ist mit heiligem Ernst und Riesenerfolg über die Bühne gegangen, so dass mehrere Aufführungen folgten und Honegger dann vor allem mit der Überarbeitung zu einer Fassung für großes Orchester bald international Anerkennung fand.


Und wenn man sich die Uraufführung im Jura-Dörfchen Mézière und die ganze Entstehungssituation so vorstellt, und auch den Text genauer ansieht, kommt man kaum um das Schmunzeln herum, denn deutlich ist ein naives Publikum als Zielgruppe gemeint, das auch durchaus emotional und mit Grusel gefesselt werden wollte. 


Vielleicht ist hier eine Erklärung zu finden, weshalb in Stade der souveräne Top-Klasse-Schauspieler Paul Sonderegger in der Sprecher- Rolle eine Interpretation der leicht hintergründigen Ironie bevorzugte. Eindrucksvoll von der Kanzel rezitierend, hatte er die Textfäden der Handlung voll unter Kontrolle. Mühelos hätte seine tragfähige Stimme den Kirchenraum auch ohne den Purzelbaum schlagenden Verstärker gefüllt – einfach schade.
Einfach schade, weil darüber hinaus nämlich diese großartige Aufführung künstlerische Maßstäbe gesetzt hat.


Die Kammersinfonie Bremen, rein solistisch mit ihren Bläsern und der Schlagwerkgruppe besetzt, wozu im weiteren Sinn auch die Stader Kirchenmusiker Natalia Gvozdkova und Martin Böcker an Klavier, Celesta und Orgel zu zählen sind, hatten den langen Atem, den flexiblen Ansatz und den nötigen hochvirtuosen Pep für eine der soghaftesten Partituren der Zeit. Beim lustvollen Musizieren standen die stimmlich hervorragend disponierten Solisten in nichts nach: zum ersten Mal in Stade Mechthild Weber – mit glockenreinem Sopran und aufs Schönste klangfarbig -, der in Stade beliebte Tenor Daniel Sans schön linear und eher zurückhaltend, und die in St. Wilhadi ebenfalls immer begeistert aufgenommene Altistin Yvi Jänicke, die neben der edel geführten Stimme auch Opernqualität bot mit einer unheimlichen, Shakespearesken Hexe von Ensor, deren melodramtisch geflüsterten Weissagungen jedoch leider – doch wohl kaum gewollt? – in der Posaune verwehten.


Dem Chor weist Honegger eine besonders gewichtige Rolle zu, er hält das Gleichgewicht zur Partie des Sprechers. Und die Stadtkantorei zeigt sich der Aufgabe sehr gewachsen. Bestens vorbereitet, stimmlich in Topform, sprachlich akzentuiert, inzwischen auch mit stattlichem Männerstimmenpotential, so präsentiert sich ein Klangkörper, der wuchtige Unisoni genau so wie die sicher nicht ganz einfachen Rhythmen und die modalen Rückungen der polytonalen Harmonik beherrscht. 


In der Interpretation fordert der souveräne Hauke Ramm seinem Chor das schneidend Archaische und Wilde wie auch die leisen Empfindsamkeiten der Partitur klar, aber mit unaufgeregter Gestik ab  und  schafft mit allen Beteiligten ein Erlebnis der Extraklasse – noch nie gab es in Stade so dramatische Bilderbuch-Crescendi und solchen Mut zu expressiver Extase!


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